Peter von Matt
* 1937 in Luzern · † 2025 in Zürich · 1957 Matura · Studium der Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte in Zürich, Nottingham und London · 1964 Promotion · 1964–1976 Gymnasiallehrer in Luzern · 1967 Assistent bei Emil Staiger an der Universität Zürich · 1970 Habilitation · 1971 Assistenzprofessor · 1976–2002 Ordinarius für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich · Gastprofessor an den Universitäten Basel, Bern und Stanford · 1992/93 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin · 1992 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt · Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen · 1998 Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste · 2001 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste · lebte in Dübendorf bei Zürich
Preise und Ehrungen (Auswahl)
1991 Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt · 1994 Johann-Peter-Hebel-Preis des Landes Baden-Württemberg · 1997 Preis der Frankfurter Anthologie und Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste · 2000 Kunstpreis der Stadt Zürich · 2001 Friedrich-Märker-Preis für Essayistik der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung · 2003 Europäischer Essaypreis Charles Veillon · 2004 Deutscher Sprachpreis der Henning-Kaufmann-Stiftung · 2006 Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste Berlin · 2007 Brüder-Grimm-Preis der Philipps-Universität Marburg · 2014 Johann-Melchior-Wyrsch-Preis (mit Beatrice von Matt) und Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main · 2017 Zürcher Festspielpreis
Publikationen
Eigene Schriften
Der Grundriss von Grillparzer Bühnenkunst. Zürich 1965 · Die Augen der Automaten. E. T. A. Hoffmanns Imaginationslehre als Prinzip seiner Erzählkunst. Tübingen 1971 · Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. Freiburg 1972 Goethe erzählt. Geschichten, Märchen, Schilderungen, Abenteuer und Geständnisse. Zürich 1982 · ... fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts. München 1983 · Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. München 1989 · Der Zwiespalt der Wortmächtigen. Essays zur Literatur. Zürich 1991 · Marcel Reich-Ranicki. Der doppelte Boden. Ein Gespräch über Literatur und Kritik mit Peter von Matt. (Hg. Thomas Anz) Zürich 1992/2020 · Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur. München 1994 · Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. München 1995 · Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte. München 1998 · Wohlan! So bin ich deiner los Du freches lüderliches Weib! Über das doppelte Gesicht des Abschieds und das große Adieu vom 20. Jahrhundert. Zürich · 2000 Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz. München und Wien 2001 · Öffentliche Verehrung der Luftgeister. Reden zur Literatur. München und Wien 2003 · Pilatus. Ein Berg. Hundert Ansichten. Kriens 2005 · Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München 2006 · Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur. München 2007 · Der Entflammte. Über Elias Canetti. Zürich 2007 · Wörterleuchten. Kleine Deutungen deutscher Gedichte. München 2009 · Der unvergessene Verrat am Mythos. Über die Wissenschaft in der literarischen Phantasie. Basel 2009 · Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz. München 2012 · Recht, Gerechtigkeit und Sympathie. Über die Gerichtsbarkeit der Literatur und ihre Strategien. Zürich 2013 · Was ist ein Gedicht? Ditzingen 2017 · Don Quijote reitet über alle Grenzen. Europa als Raum der Inspiration. Basel 2017 · Spittelers Mut. Luzerner Universitätsreden Nr. 34, September 2019 · Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur. München 2019 · Der doppelte Boden. Ein Gespräch über Literatur und Kritik mit Peter von Matt / Marcel Reich-Ranicki. (Hg. Thomas Anz) Zürich 2020 · Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten. Die Möglichkeiten der Literatur. München 2023 · Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur. München 2023
Herausgaben
Franz Grillparzer. Gedichte. Stuttgart 1970 · Adelbert von Chamisso. Gedichte und Versgeschichten. Stuttgart 1971 · Ludwig Uhland. Gedichte. Stuttgart 1978 · Heinrich Heine. Die Bäder von Lucca/Die Stadt Lucca. Stuttgart 1979 · Goethe erzählt. Geschichten, Novellen, Schilderungen, Abenteuer und Geständnisse. Zürich und München 1982 · E. T. A. Hoffmann. Die Elixiere des Teufels. Zürich 1983 · Schöne Geschichten! Deutsche Erzählkunst aus zwei Jahrhunderten. Stuttgart 1992 · Deine Sehnsucht war die Schlange. Ein Else Lasker-Schüler Almanach. (Mit Anne Linsel) Wuppertal 1997 · Die schönsten Gedichte der Schweiz. (Mit Dirk Vaihinger) München und Wien 2002 · Friedrich Dürrenmatt. In den Verliesen der Wirklichkeit. Erzählungen. (Mit Daniel Keel) Zürich 2004 · Max Frisch. Erzählungen. Frankfurt/M. 2005 · Max Frisch. Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Berlin 2011 · S. Corinna Bille. Schwarze Erdbeeren. Erzählungen. München 2012 · Jeremias Gotthelf. Wilde, wüste Geschichten. München 2012 · Heinrich Hoffmann. Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder. Nach der Druckfassung von 1859 unter Berücksichtigung der Handschriften. Stuttgart 2015 · Carl Spitteler. Dichter, Denker, Redner. Eine Begegnung mit seinem Werk. (Mit Stefanie Leuenberger und Philipp Theisohn) Zürich 2019 · Max Frisch. Erzählungen. Berlin 2020
Gedenken
In Memoriam Peter von Matt
Nachruf von Friedrich Dieckmann
Sein – für mich – erstes Buch war ein Paukenschlag: „Literaturwissenschaft und Psychoanalyse“, Freiburg 1972, eine Einführung für den Universitätsgebrauch. Ich erhielt es von einer westdeutschen Freundin und es erwies sich als eine Offenbarung, indem es mit dem Vorurteil aufräumte, daß die psychologisch orientierte Literaturbetrachtung auf eine Relativierung und Subjektivierung des dichterischen Schaffens hinauslaufe. Peter von Matt untersuchte weniger die Autoren als die Werke, die Dichtungen unter psychoanalytischen Aspekten und bezog ihre Wirkung auf die soziale Relevanz der darin enthaltenen psychischen Motivlage. So kam er zu dem Begriff des psychodramatischen Substrats „als Instrument“ und entwickelte ihn überaus spannend an Schillers „Wilhelm Tell“. Die traditionelle Germanistik beruhigte der jugendliche Analytiker mit der Versicherung, daß durch die Deutung des Stücks als Vatermord-Drama „keine der bestehenden, methodisch korrekt geführten Tell-Interpretationen umgestürzt oder gar … lächerlich gemacht“ würde, und legte dar, daß Schiller mit dem Werk das Modell eines Umsturzes aufgestellt habe, „der … das immense Schuldpotential des Vatermords auf raffinierte Art ableitet und so die Selbstzerfleischung der Brüder und die darauf folgende Installation eines neuen Vaterbildes von noch verschärfter Autorität (Napoleon) verhindert“. Das war ebenso historisch wie psychologisch gedacht.
Der zweite Paukenschlag erreichte mich, der ich zu dieser Zeit Dramaturg am Berliner Ensemble war, 1976 in Gestalt eines Aufsatzes Peter von Matts in der von Rudolf Hartung herausgegebenen Neuen Rundschau. Er hieß „Brecht und der Kälteschock“ und führte die dichterische Intensität des Kältemotivs in Brechts frühen Stücken und Gedichten auf die präödipale Schockerfahrung der Kälte zurück, die den Säugling trifft, ehe das Vater-Mutter-Konfliktfeld in sein Bewußtsein tritt. Dies alles war mit argumentativer Luzidität und in Kenntnis neuester psychologischer Forschung vorgetragen, und ich mußte lachen, als ich im Appendix des Heftes das Geburtsjahr des Verfassers mit 1973 angegeben fand, so als hätte ein Kleinkind aus eigener frischer Erfahrung den Text verfaßt. Ein Zahlendreher war hier am Werk, Peter von Matt war wie ich selbst im Mai 1937 geboren, ein Altersgenosse, von dem man was lernen konnte. Dazu hatten nicht alle Lust und am wenigsten hatten sie die Matadore der Brecht-Industrie, die sich nicht vorstellen konnten, daß der Dichter von etwas anderem bewegt gewesen sei als von der Errettung der Menschheit vom Kapitalismus.
Der fundamentale Brecht-Aufsatz fand sich 1994 in einem Band des Hanser Verlags wieder, der „Das Schicksal der Phantasie“ hieß. Peter von Matt, der einer Familie von Druckern, Buchbindern, Verlegern und Antiquaren entstammte, war inzwischen Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich geworden. Diese Essaysammlung war kein Streifzug durch die deutsche Literatur – sie war ein Fischzug, dessen Fangkorb eine Fülle überraschender Erkenntnisse mit sich führte. Schillers „Glocke“ konnte der Autor überhaupt nicht leiden und wußte das fesselnd zu begründen, Thomas Mann unterstellte er auf dem Weg zum Nationalschriftsteller sowohl die Hinrichtung wie die Verklärung Goethes, und in Nestroys Kunst, die sich „unter dem feinstausgebildeten und gleichzeitig stupidesten Polizei- und Überwachungssystem des 19. Jahrhunderts“ ausbildete, entdeckte er eine politische wie existentielle Angst, über die die massive Komik der Stücke nicht hinwegtäuschen könne. Das waren drei von vierundzwanzig Texten, die, bei aller wissenschaftlichen Stringenz, Erzählungen mit den Mitteln der Wissenschaft waren. In ihrer Lust an der Freilegung neuer, überraschender Aspekte hatten sie etwas vom Duktus der Detektivgeschichte.
Vorangegangen war 1983 unter dem Titel „…fertig ist das Angesicht“ eine „Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts“. „Fester als bei dieser Nase kann man ein Gesicht nicht fassen“, lautete das Motto nach einer Äußerung Kafkas über Schadows Schiller-Zeichnung, und ein Kapitel über das literarische Bildnis in Goethes „Dichtung und Wahrheit“ mündete in einen Exkurs über „die grundsätzliche Unbeschreibbarkeit des menschlichen Gesichts“. Das Buch, eine brüchige Broschur, war sein erstes bei Hanser, und bei dem zweiten gab sich der Verlag mehr Mühe; es hieß „Der Liebesverrat“ mit dem Untertitel „Die Treulosen in der Literatur“ und war am Leitfaden der Literatur eine Phänomenologie der Liebe in ihren Höhen und Tiefen, ihren Strahlkräften und Fallstricken, wie sie sich geistvoller und umfassender nicht denken ließ. Entgegen seinem Titel kulminiert das Buch in der Entdeckung dessen, was von Matt die „deutsche Gegenreligion“ nannte, „welche, in wie vielen Brechungen auch immer, zuletzt die Einheit der klassisch-romantischen Periode ausmacht“ (S. 212). Ihr Schlüsselwort lautete – Liebe. „…in dem, was die Dichter ‚die Liebe‘ nennen“, erläuterte der Autor, „läuft die ursprüngliche Erfahrung der ganzen klassisch-romantischen Epoche zusammen. … ‚Liebe‘ wird erfahren als eine Gewalt, die nicht ist ohne die konkreten Liebenden und diese doch übersteigt; die erst in ihnen ganz wirklich wird und sich ihrer doch wiederum zu bedienen scheint. … Die Liebenden haben an der Liebe nur Anteil, sie verfügen nicht über sie. Weit eher sind sie deren Medium.“ Diese Gegenreligion sei eine „Religion der Intelligenz“ gewesen, die „sich in einer höchst ungenauen Position zwischen der politisch-gesellschaftlichen Macht und der breiten Masse des Volkes“ befunden habe. Zitate sind nur ein Hilfsmittel; man muß diese mit Erkenntnissen geladenen Texte selber lesen, um ihre Tiefenschärfe zu erfassen.
Das Berliner Wissenschaftskolleg mit seinen idealen Arbeitsbedingungen förderte 1992 ein Arbeitsprojekt Peter von Matts, dessen Buchgestalt den Titel „Verkommene Söhne, mißratene Töchter“ erhielt mit dem Zusatz „Familiendesaster in der Literatur“. Auch dies: eine Fundgrube ersten Ranges, mit einem Einzugsgebiet, das von Sophokles und Wernher dem Gärtner bis zu Kafka und Brecht reichte. Danach ein Band „über Dichter und Gedichte“, der „Die verdächtige Pracht“ hieß und seinen theoretischen Teil durch eine Fülle von Einzelinterpretationen ergänzte, von denen viele in Marcel Reich-Ranickis Frankfurter Anthologie erschienen waren. Es folgte ein Buch „über die literarische und politische Schweiz“ namens „Die tintenblauen Eidgenossen“; darin konnte man lesen: „Frisch heißt Frisch, in der Schweiz wie in Deutschland, und Muschg heißt Muschg, und Widmer heißt Widmer diesseits und jenseits vom Bodensee. Bichsel aber heißt nur in Deutschland Bichsel. In der Schweiz heißt er Bich-sel, mit jenem entsetzlich knirschenden Gutturallaut, der die Deutschen eher an die Geräusche in einem Steinbruch oder an das schleifende Krachen einer Zahnextraktion erinnert als an die kultivierten Tonfolgen zwischenmenschlicher Verständigung.“ Dieser Autor, dessen grenzenlose Leselust dem Leser auch aus diesem Buch entgegenleuchtete, ist auf eine alpin-lakonische Weise auch ein Humorist, dessen Pointen wie die Zacken des Alpenlandes in den Himmel stechen. Aber er versteht sich auch auf gelindere Heiterkeiten und lenkt in einem Buch, das „Das Wilde und die Ordnung“ heißt, das Auge des Lesers beiläufig auf die unerhörte Tatsache, daß in einem berühmten deutschen Theaterstück auf offener Bühne eine Kopulation der beiden Hauptfiguren stattfindet, so im dritten Akt des Goetheschen „Faust“, Zweiter Teil.
Wer die Liebe und die Familie, das Wesen der Lyrik und das der Schweiz umfassend ins Auge faßt, kann sich gerüstet finden, es auch mit List und Tücke als dem diabolischen Bodensatz des gesellschaftlichen Betriebs aufzunehmen. „Die Intrige / Theorie und Praxis der Hinterlist“ hieß das Buch, in dem Peter von Matt sich diesem Thema stellte, um es in immer neuen Varianten vor den Leser zu stellen. Er setzte früh an, beim Trojanischen Pferd und der biblischen Jakob-Esau-Affäre, um in der Mitte des Buches darauf zu kommen, daß Schiller der „größte Intrigendichter der deutschen Literatur“ gewesen sei; dessen Hang zu der „diabolischen Dichtart“ sei ein „Akt der Apostasie gegenüber den numinosen schicksalstiftenden Mächten“ gewesen. Die von Lessing mit einem vehementen Aufsatz eingeleitete Ablösung des deutschen Dramas vom Vorbild der Franzosen gerät dem Kommentator zum Strategiedrama, und daß Schiller in einem Brief an Goethe diese Aburteilung später noch einmal vollzieht, läßt ihn von einem Lessing-Schiller-Komplott gegen Corneilles damals berühmte Tragödie „Rodogune“ sprechen, das seither niemand mehr kennt.
Peter von Matt macht uns mit ihm bekannt; nicht nur hier exzelliert er in dem, was der junge Lessing „Rettungen“ nannte. Er rettet nicht nur die schreckliche „Rodogune“, sondern in andern seiner Bücher auch Grillparzers „Libussa“ oder den Roman „Moderato cantabile“ der Marguerite Duras. Die den Gegenständen innewohnende Spannung wird dabei zu einem Moment der Darstellung selbst. Es ist der Essay, der dem Autor eine Freiheit gibt, die seine Bücher über Literatur selbst als Literatur beglaubigt.
„Wo nehme ich nur alle die Zeit her, soviel nicht zu lesen?“ ist ein Satz von Karl Kraus, den Peter von Matt im Licht von Lese-Kommentaren bei Lichtenberg, Schopenhauer und Gottfried Keller nach allen Seiten ausleuchtet – einen Satz, erstaunlich genug für einen, der die Zeit fand, mehr zu lesen als alle andern, die ich kenne. Die Intention, die ihn trägt und beflügelt, ist Aufklärung in keinem dogmatischen, sondern einem durchaus lustvollen Sinn; wenn er Werke und Sätze durchleuchtet („Wörterleuchten“ heißt eins seiner schönsten Bücher), tut er es nicht mit Röntgenstrahlen, die alles in Grautöne auflösen, sondern wie mit den farberhaltenden Scannern, die an Flughafenschaltern unser Gepäck aufklären. Wie er in seinem Buch „Sieben Küsse“ anhand der berühmten Erzählung eines Autors, den man wohl seinen Lieblingsautor nennen darf (es ist Heinrich von Kleist), den Nachweis führt, daß „die Literatur in Szenen denkt und nicht Gedanken in Szenen verkleidet“ (S. 159), ist bannend durchaus. Worum es geht, ist „Die Marquise von O…“ und der maßlose Kuß, mit dem am Ende der Geschichte der Vater seine verkannte und verstoßene Tochter wieder an sich zieht. Wie Peter von Matt diese Geschichte und alle ihre Interpreten auf 46 Druckseiten untersucht, ist denkwürdig auch, weil es deutlich macht, wie Dichtung durch die Intensität der Interpretation die Dimension einer Offenbarung in gleichsam theologischem Sinn gewinnt. Ein Bibelphilologe kann sich nicht angelegentlicher über die heiligen Schriften mit ihren Nuancen und Widersprüchen beugen als dieser Kommentator über Kleists Satzzeichensetzung; das Absurde, das dieser nichtendenwollende Vaterkuß bedeutet, ergründet er mit einem Ernst und einer Hingabe, als sei der durch nichts als seine Sprache beglaubigte Dichter die Stimme höherer Vernunft.
Daß auch ein Opernteam das sein kann, hat Peter von Matt 2023 im Blick auf die „Zauberflöte“ an der Gestalt des Papageno entfaltet und ihn in einem zweiten Aufsatz vertieft, den er „Das Schicksal der Sonne“ nannte. Der Blick reicht von Haydn und Goethe bis zu Caspar David Friedrich und E. T. A. Hoffmann und stellt die „Zauberflöte“ ins Zentrum, mit Paminas und Papagenos Duett, das die frauenfeindliche Ordenswelt der Sarastro-Prieser subversiv aufbricht: „Mann und Weib, und Weib und Mann, / Reichen an die Gottheit an.“ Der Zwiegesang spreche „die Wahrheit über das schöne Paar“ aus: zusammen seien sie, so der Kommentator, „jetzt schon Bewohner der erlösten Welt.“ „Die schönen beiden am schönen Ort waren kein Sinnbild“, fügt er hinzu, „sondern ein Beweis. Sie bezeugten die Möglichkeiten der vollkommenen Welt für alle.“
Das ist all denen gesagt, die das Werk, wie heutige Inszenierungen quer durch Europa belegen, wieder wie vor Felsenstein und Ernst Bloch für ein Kinderstück halten. Indem Peter von Matt Klassik und Romantik in ihrer Epocheneinheit begreift, vermag er auf wenigen Seiten die Fallhöhe der Enttäuschung deutlich zu machen, die von dem Finale der „Zauberflöte“, wo sich das ganze Theater in eine Sonne – die Sonne realisierter Weltvernunft – verwandelt, zu der kalten Sonne führt, die fünfundzwanzig Jahre später nach ungeheurem Blutvergießen in Schuberts und Schmidts von Lübeck Wanderer-Lied ihr Wesen treibt, Sinnbild einer um fundamentale Neueinrichtung gebrachten Welt. Das geht uns nahe, die wir beim Zusammenbruch des mörderischen Antagonismus zweier Weltmächte durch das Zurückweichen der einen doch auch einige Aussicht auf Weltverbesserung gehabt hatten. Es war ein Traum! Auch hier war die Hybris stärker als die Hoffnung.
Peter von Matts Interpretationswerk, diese sich in immer neuen Erzählungen ergehende Motivgeschichte der Weltliteratur, gibt uns in einer Welt, deren Anstrengungen vor allem darauf gerichtet erscheinen, sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen, eine Vorstellung davon, was Literatur vermag, wenn man sie ernst nimmt, wenn man sich einläßt auf ihre ober- und unterirdischen Gänge und Schlupfwinkel und sie als Element einer Humanität erkennt, die Rätsel zuläßt, um uns auf die Sprünge zu helfen. Die Stimme dessen, der sie uns wie kein anderer zu deuten wußte, wird uns schmerzlich fehlen. Er hinterläßt uns sein Werk, das, die Werke deutend, selbst zum Kunstwerk wurde. Es ist griffbereit, wir müssen es nur aufschlagen.