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Pressestimmen

2025

Deutsch-jüdische Familiengeschichte als komische Katastrophe. Die Münchner Schriftstellerin Dana von Suffrin wird am 16. Mai mit dem Dresdner Chamisso-Preis geehrt.

Tomas Gärtner

In ihrem autobiografisch inspirierten Romandebüt „Otto“ (2019) beschreibt Dana von Suffrin ein Lebensgefühl, das auf allem lastet: „man muss stets mit dem Schlimmsten rechnen“. Das hat mit der Herkunft ihrer Figuren zu tun: Die jüdischen Vorfahren stammen aus einem galizischen Schtetl, flohen vor den Pogromen erst nach Wien, dann nach Siebenbürgen. Einige aus der Familie wurden umgebracht.

Otto, der Vater, ist 1938 in Kronstadt geboren. Otto hat ihn sein patriotischer Vater genannt - weil der ein richtiger Österreicher sein wollte. Anfang der 1960er Jahre verließen sie Rumänien und wanderten aus nach Israel. Von dort kam der Vater über das Ruhrgebiet nach München, wo er als Professor am Polytechnikum arbeitete. Unter anderem besitzt er als Erbstücke 14 Krugerrand-Münzen − „die eiserne Reserve, wie er sagte, falls wir mal wieder deportiert würden“.

Das schildert uns die 1985 in München geborene Autorin in einer katastrophenreichen Familiengeschichte. Ursula, die deutsche Mutter, ist Alkoholikerin. Die Eltern streiten sich ständig, lassen sich scheiden, als Timna, die ältere Tochter, elf Jahre alt ist. Sie erzählt uns das, genauer: Sie versucht es. Denn nichts will sich zu einer gängigen Familiengeschichte fügen. Die Berichte des Vaters verheddern sich zum Knäuel: „Unsere Familie war eher ein Klumpen Geschichten.“ So gerät alles sprunghaft. Die „untergegangenen Welt“ des Vaters fängt das Buch in Splittern ein.

Es geht ruppig zu. Vater Otto, ein unausstehlicher Typ, über 80, gebrechlich, ein Geizkragen, schimpft wüst und kommandiert die Töchter herum. Und dennoch hält diese Familie zusammen. Timna konstatiert: „wir sind Kinder, und wir bleiben Kinder von Kindern“. Einmal erzählt der Vater, wie Timnas Großeltern vom Tod ihrer Eltern in der Gaskammer erfuhren. Da wird ihr bewusst: „Konnte ich meinem Vater, Sohn einer über Nacht weiß gewordenen Frau, übel nehmen, dass er war, was er war?“ Mit ihrer rauen Prosa weigert sich Dana von Suffrin, Leben zu glätten und es so zu verfälschen. Sie beweist Mut zum Glanzlosen.

Charakteristisch ist eine schwarze Komik, die alles durchzieht. Manche halten das angesichts des Holocausts für unangemessen. Meist Deutsche, wie Dana von Suffrin in einem Interview feststellte. „Aber wir sind von klein auf von gebrochenen Menschen umgeben gewesen, Humor ist für uns die Möglichkeit, mit all dem Schrecken umzugehen.“

Das gilt auch für „Nochmal von vorne“ (2024). Auch dieser Roman wird nicht die schöne Geschichte von einem Israeli und einer deutschen Katholikin, denn „es war ganz anders, es war völlig banal“. Zusätzlich bezieht die Autorin den historischen Hintergrund ein. Auch hier: Unglück, Angst, Zank, sinnloses Sterben, Selbstmordversuch, ein Familienkosmos aus „neurotischen, höchst bedürftigen Individuen“. Doch die Erzählerin, diesmal die jüngere Schwester, zeigt, dass all das auch etwas sehr Komisches hat. Schon als Kinder geraten sie in einen „traurigen Heiterkeitsrausch“. Unterschiedliche Perspektiven jüdischer Schriftsteller nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 bringt Dana von Suffrin in „Wir schon wieder“ (2024) zusammen, einem Sammelband mit Texten von 16 namhaften Autorinnen und Autoren. „Traurige, tote Juden, Klezmer oder Chagall sind als Projektionsfläche natürlich populär, Jüdinnen und Juden, die sich öffentlich äußern, schon ein bisschen weniger“, schreibt sie als Herausgeberin im Vorwort.

Klischees setzt sie überraschende Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit entgegen. Mit einem „Jüdischen Buchclub“ in München, ihrer jüngsten Initiative, möchte sie ausgetretene Pfade verlassen. Besonders stört sie, dass alles so „floskelhaft“ geworden sei, wie sie in einem Interview sagte. Das Gefühl jüdischer Autoren, „Staatsbürger auf Abruf“ zu sein, ziehe sich aus der Literaturgeschichte bis in die Gegenwart. „Dieses Stückchen Irritation ermöglicht allerdings einen guten Blick auf die Verhältnisse.“

Für ihre literarischen Irritationen bekommt sie am 16. Mai den Dresdner Chamisso-Preis, der mit 5000 Euro dotiert ist.

 

Von Thomas Baumann-Hartwig

Der Freistaat Sachsen hat seine grundsätzliche Bereitschaft erklärt, landeseigene Grundstücke am Königsufer der Landeshauptstadt Dresden zu verkaufen. Das teilte jetzt Finanzminister Christian Piwarz (CDU) auf Anfrage des Grünen-Landtagsabgeordneten Thomas Löser mit.

Bei den Grundstücken handelt es sich um Teile der Elbwiesen und des Elberadweges zwischen Finanzministerium und Augustusbrücke sowie um den Parkplatz des Finanzministeriums und die Wege im Umfeld des Ministeriumsgebäudes. Die im Vorentwurf des Bebauungsplanes für das Königsufer als öffentliche Grünflächen und Verkehrsflächen ausgewiesenen Teilflächen der landeseigenen Grundstücke könnte die Landeshauptstadt bei einer endgültigen Festsetzung der Nutzungsart kaufen, so Piwarz.

Es stehen demnach keine Baugrundstücke und auch nicht die Fläche der Filmnächte am Elbufer zum Verkauf, die der Freistaat der Stadt auf unbestimmte Zeit zur Nutzung überlassen hat. Sondern nur Wiesen und Wege sowie ein Parkplatz. Diese grenzen aber an Baugrundstücke im Besitz der Landeshauptstadt und sind wichtig für die Wegerechte.

Löser begrüßte die Verkaufsabsicht als gutes Signal für Dresden. Die Stadt plant seit 2018 eine Bebauung des Königsufers und verfügt über Flächen zwischen dem Biergarten und dem Finanzministerium. Die Grundstücke zwischen Blockhaus und Bilderberg Bellevue Hotel befinden sich im Besitz privater Investoren.

Die Debatte über die Bebauung am Königsufer hatte Fahrt aufgenommen, nachdem der Haushaltsausschuss des Bundestages im September 2024 eine Fördersumme von 15 Millionen Euro für den Neubau einer Richard- Wagner-Akademie mit Kammermusiksaal freigegeben hatte. Das von Jan Vogler, Intendant der Dresdner Musikfestspiele, initiierte Vorhaben sollte auf den städtischen Grundstücken realisiert werden. Der Stadtrat erteilte den Plänen aber eine Teilabsage. Vogler dürfe gerne seine Ideen vertiefen, könne aber nicht mit städtischen Geldern und Ressourcen rechnen, so der Beschluss im Dezember 2024.

Piwarz lässt offen, ob der Freistaat einen Finanzierungsbeitrag zur Richard-Wagner-Akademie leistet. Die Planungen der Staatsregierung zum Doppelhaushalt 2025/2026 seien noch nicht abgeschlossen. Löser erklärte, es dürfe trotz der Millionen- Zusage des Bundes nicht darum gehen, mit Fördersummen um sich zu werfen. »Ich plädiere dafür, gemeinsam gute städtebauliche Lösungen und eine dem Ort angemessene Nutzung zu finden.«

Der Grünen Politiker kann sich eine innerstädtische Platzierung der Technischen Universität Dresden und einen neuen Standort der Sächsischen Akademie der Künste am Königsufer gut vorstellen. »Leider zeigt die Staatsregierung bei diesen Themen keinerlei Initiative«, entnimmt Löser den Worten von Piwarz, in denen Initiativen des Freistaats verneint werden. Die Akademie der Künste leiste eine hervorragende Arbeit bei der Vermittlung und Diskussion über Kunst in Sachsen, erklärte der Grüne. »Die aktuelle Unterbringung am Palaisplatz ist für die Arbeit der Akademie wenig geeignet. Eine prominente Adresse am Königsufer wäre der Bedeutung der Arbeit angemessen und würde der Akademie mehr Aufmerksamkeit bringen.«

Alle Rechte vorbehalten. © Dresdner Neueste Nachrichten.
 

2024

Neue Lyrik stellten Měrana Cušcyna und Bertram Reinecke am 12. Dezember 2024 in der Sächsischen Akademie der Künste mit ihren Gedichtbänden der gleichnamigen Reihe vor, die von Jayne-Ann Igel, Jan Kuhlbrodt und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen im Verlag Poetenladen herausgegeben wird.

Tomas Gärtner

Reich sind die Möglichkeiten von Poesie, die in Sachsen entsteht. Staunen darüber lassen uns Merana Cušcyna und Bertram Reinecke mit ihren Bänden in der Reihe „Neue Lyrik“. In ihrem, den sie „innen bröckelt die unerhörte schicht“ genannt hat, lässt uns Merana Cušcyna Teil haben an ihrem Leben in der Lausitz. Die Bautzener Dichterin, Jahrgang 1961, bis 2009 Lehrerin am Sorbischen Gymnasium, zeigt uns Herkunft und Kindheit. Wir sehen in ihren durchgehend klein geschriebenen Versen, wie Erinnerung mit aufbewahrten Gegenständen verschmilzt - man kennt das von sich selbst. Wir durchstreifen die vom Braunkohletagebau umgeformte Landschaft, das „verheizte kohleland“, in dem Dörfer verschwanden; sehen den Wechsel der Jahreszeiten.

Ein alter Pflaumenbaum grüßt über den Zaun, dazwischen schimmern Himmelschlüssel. Wir durchleiden mit ihr Hilflosigkeit und Ängste einer Krankheit, die zeigt, wie zerbrechlich das Leben ist. Aber auch Baumengel und Skulpturenengel schweben durch die Zeilen. Sie bietet uns eine Betrachtungsweise an, bei der aus Alltäglichem das Besondere hervorleuchtet. Immer wieder wendet sie Worte hin und her, betrachtet die Sprache, findet gerade dafür treffende Bilder - etwa die von „wortkleidern / die wärmen und mit ausgehen“. Oder es wird „aus dem ärmel geschüttelt / sorbischdeutscher sprachstoff“. Zwei Sprachen zu beherrschen, verleiht ihr einen Reichtum, den sie mit uns teilt.

Unterschiedlich wirke dieses Sprachmaterial, erklärte sie zur Buchpremiere in der Sächsischen Akademie der Künste in Dresden im Gespräch mit Moderator Michael Hametner. „Manchmal ergibt sich aus dieser Zwiesprache ein Zwiegeflecht, manchmal aber auch Zwietracht.“ Sie muss andere Worte wählen, um etwas auszudrücken. Und schätzt die besondere Klangmelodie des Sorbischen: „Die Zischlaute bringen eine gewisse Weichheit.“ In dem Gedicht „Tauschgut“, wo Sprache zur Jacke wird, spricht sie sehr schön von „wendesilben im klangtausch / innen weich dunkel zart außen hart“.

Ein Dichter besonderer Art ist der Leipziger Bertram Reinecke, geboren 1974. Ein gelehrter Poet von unglaublicher Belesenheit, ein formstrenger Versarbeiter mit unerschöpflicher Energie. „Das Montieren von neuen Texten aus unveränderten Zeilen anderer Werke bildet das Herzstück meiner Arbeit“, bekennt er in einem Essay am Ende seines Bandes „Daphne, ich bin wütend“. Über Wochen oder Monate durchforste er Materialcorpora aus vergangenen Jahrhunderten oder der Gegenwart nach geeigneten Zeilen. Woraus ihm ein besonderes Gefühl für Räume des Sagbaren, Atmosphären, Ersetzbarkeiten erwächst. Für solche Feinheiten kann man bei ihm seinen Blick schulen.

„Oft ist mir im Gedicht doppelte Lesbarkeit wichtig“, sagte er im Gespräch. Zum Beispiel im Pantun (oder Pantum), einer Form der malaiischen Dichtung, wo Wendungen sich wiederholen, aber in verschiedenen Kontexten, so dass sie ihren Sinn verändern. In „Vasilis, müllsammler“ kombiniert er Zeilen griechischer Dichter mit Zitaten aus einer „Spiegel online“-Reportage. Das entwickelt einen bedrängenden Sprachsog. Wir hören einen armen Menschen sprechen: „Ich musste mich entscheiden ein dieb zu werden oder ein aasfresser“.

Dem empathielosen Gerede über eine Krise anderswo setzt er die Stimmen Betroffener von dort entgegen. Das ist mehr als nur ästhetisches Spiel. Auch in Versen über das Camp Moria kommt uns ein flüchtender Mensch so nahe, dass es wehtut. Das Außergewöhnliche: Nicht er spricht in seinen Versen, sondern viele andere; ein Stimmengewirr, mit Brüchen, aber kunstvoll geordnet. Man liest das fasziniert wie irritiert. Und stellt sich Fragen: Wie eigenständig und originell kann eigenes Sprechen sein? Er jedenfalls zapft nicht die Quellen eigener Inspiration an, sondern sammelt Sprachreichtum bei anderen. Seine Leistung aber ist die Kombination. Welch erstaunliches dichterisches Vermögen er jedoch ebenfalls besitzt, beweisen seine gleich vier Fassungen eines als unübersetzbar geltenden Gedichts von Dylan Thomas.

Bertram Reinecke: „Daphne, ich bin wütend“, 168 S., 19,80 Euro.

Měrana Cušcyna: „innen bröckelt die unerhörte schicht“, 136 S., 19,80 Euro.

Lesung und Gespräch von Wihelm Bartsch und Prof. Dr. Stephan Pabst am 28. November 2024 in der Sächsischen Akademie der Künste.

Tomas Gärtner

In seinem neuen Gedichtband „Hohe See und niemands Land“ eröffnet uns Schriftsteller Wilhelm Bartsch einen ganzen Kosmos von literarischen und mythologischen Bezügen: das alte Ägypten, Homers „Odyssee“, die Bibel, die altnordische Edda, englische Romantik, deutsche Klassik bis hin zu Dichterkollegen und bildenden Künstlern unserer Gegenwart.

„Ich bin wie ein Bartenwal unterwegs“, sagte der in Halle lebende 74-jährige Dichter in der Sächsischen Akademie der Künste, wo er seinen Lyrikband im Gespräch mit dem Hallenser Literaturwissenschaftler Stephan Pabst vorstellte. „Ich ziehe Unmengen an Krill durch mich hindurch.“

Was davon hängenbleibt, ist beachtlich. Staunend nimmt man diese enorme Wortfülle wahr, mit der er seine Verse ausstattet. Hat man so was je gelesen? „als ich vor Ugarit / Ins kölnderdomtiefklare Meer sprang“. Ugarit, eine weit über 4000 Jahre alte Stadt in Nordsyrien, schneidet er zusammen mit seinem syrischen Herzarzt. Von seinem bedrohlichen Gesundheitszustand kommt er auf den Krieg: „Ach Syrien im Herzen, das schon aufhört / Zu schlagen in der Weltbrust“.

Der Sprache bediene er sich als etwas, was ihm nicht gehöre. „Ich werde angeredet von vielen Stimmen aus der Weltliteratur und aus dem alltäglichen Sprechen. Aus diesem Meer von Stimmen, die mir zugetragen werden, entsteht ein Gedicht.“

Ein herrliches Bild eröffnet eins dieser Gedichte: „Der Eisberg Ararat schwimmt durch die Nacht / Und schlitzt Noahs Titanic mit dem Gipfel.“ Meere, Schiffe und Inseln bieten ihm einen schier unerschöpflichen Bildvorrat. Das hat eine so bedrängende Kraft und Lebendigkeit, dass man beim Lesen die Wellen rauschen hört.

Zum „Patron seines Erdenwallens“ hat Wilhelm Bartsch den irischen Heiligen Brendan aus dem 5./6. Jahrhundert erwählt, mit seiner „Navigatio Sancti Brendani“, der legendenhaften Schilderung seiner Seereisen. Und so häufig Inseln in seinen Versen sein mögen, bei denen man an utopische Orte denkt, entscheidend sei etwas anderes: „Das Wichtigste ist, nach draußen zu gehen, auf die hohe See, ins Niemandsland.“ Das tut er in diesem Band auf beeindruckende Weise. Als poetischer Seebär kreuzt er auf den Meeren dieser Welt und fasst ihren heillosen Zustand in die unglaublichsten Sprachbilder.

„Niemandsland“ ist ein zentraler Begriff, wie Stephan Pabst beobachtet hat. „Die Liebe als Besitzlosigkeit wird ausgedehnt auf andere Bereiche.“ Liebesethik setze er als Entwurf gegen das Privateigentum.

Als ökonomische Tatsache wolle er das nicht abschaffen, betont Wilhelm Bartsch. Ihm geht es um ein existenzielles Weltverhältnis: „Nach Heimat fragt ihr mich? Ich hab Asyl. / Fragt mich auch nicht nach jenem Zentimeter, / Der mir gehört, und sei es nach Gefühl. / Ich hab ihn nicht, bin kein Besitztumstäter, / Denn mir gehört nur alles oder nichts“.

Um welch andere Art von Besitz es geht, erfährt man als Leser, wenn man immer wieder auf unbekannte Namen stößt. Den von Robinson Jeffers etwa, ein US-amerikanischer Dichter und Naturphilosoph. Man geht dieser Spur nach, öffnet eine Tür und steht in einem neuen Raum. Auch Entdeckungen wie diese sind es, die einen in den Gedichten so bereichern.

Seine überbordenden Bilder fasst Wilhelm Bartsch in strengste Versformen, mit denen er aber gelegentlich auch etwas freier umgeht. Dichterisches Zentralgestirn für ihn ist William Shakespeare. Eine Paraphrase von dessen 87. Sonett eröffnet den Band. Wie in einer Ouvertüre klingen zentrale Themen an: Es handelt sich um ein Liebesgedicht für „Frau Welt“, diese so sehr geschundene. Sterbender Natur begegnen wir auch in vielen anderen Zeilen, vom Borkenkäfer zerfressenen Fichten etwa.

Auch in die tiefsten Abgründe menschlicher Grausamkeit lässt er uns blicken, nimmt uns mit nach Auschwitz und Birkenau zu den Krematorien. Von dort schlägt er eine kühne gedankliche Brücke zur Umweltzerstörung: „Wie kann ich Auschwitz noch unfassbar fassen, / Wenn wir Gas geben und die Welt verprassen.“ Doch selbst am düstersten Ort zeigt er uns das Andere auch: „und arg beglückt / Seh Schönheit ich vorm Draht unmenschlich blühen“.

Wilhelm Bartsch: „Hohe See und niemands Land“. Wallstein. 139 S., 22 Euro

 

Der Werkstatt-Tag mit dem Schriftsteller und Theologen Christian Lehnert fand in Zusammenarbeit von Evangelischer Akademie Sachsen, Katholischer Akademie des Bistums Dresden-Meißen und der Sächsischen Akademie der Künste am 19.11.2024 in der Sächsischen Akademie der Künste statt. Die Lesungen wurden kommentiert von OLKR Burkart Pilz, Dr. Ulrike Irrgang und dem Schriftsteller Uwe Kolbe.

Mit einem Werkstatt-Tag zu Christian Lehnerts vier Buch-Essays betreten drei Akademien Neuland in der Zusammenarbeit.

Tomas Gärtner

Den Apostel Paulus, die Elemente des Gottesdienstes, Engel sowie die Offenbarung des Johannes, das letzte Buch der Bibel, lässt uns Christian Lehnert neu entdecken - in vier Büchern, 2013 bei Suhrkamp erschienen das erste, das jüngste 2023. Das Ungewöhnliche an ihnen: Sie bewegen sich zwischen christlicher Religion und Literatur. Der Dichter und evangelische Pfarrer, 1969 in Dresden geboren, unternimmt erhellende Tiefenschürfungen im griechischen Urtext, begibt sich aber aus der Theologie heraus in die Poesie. Außerdem bringt er sich selbst mit seinen Erfahrungen ein. Als „Mischung aus erzählendem Essay und essayistischer Prosa“ bezeichnet er diese Texte. „Anders als ein Exeget, der Distanz sucht, suche ich Resonanz.“

Einer, der derart gekonnt in normalerweise getrennten Disziplinen unterwegs ist, schien der Evangelischen Akademie Sachsen und der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen, die inzwischen einen Zusammenschluss ausloten, bestens geeignet, erstmals in einer Dreierkonstellation mit der Sächsischen Akademie der Künste zu kooperieren. Deren Veranstaltungsraum war beim Werkstatt-Tag zu diesen Essays fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Mit solch enormem Interesse für diesen Versuch der Grenzüberschreitung hatten die Organisatoren nicht gerechnet.

Schon eine solche Werkschau ist selten. Besonders an ihr war zudem die Methode: Andere reagierten mit ausgearbeiteten Kommentaren auf Lehnerts Texte, in Resonanz, auch Widerspruch.

„Korinthische Brocken“. Auf diesen ersten Essay antwortete Ulrike Irrgang. Lehnert, der, kirchenfern aufgewachsen, erst mit 15 zum Glauben fand, nähert sich darin mit dieser seiner Brucherfahrung der des Paulus (um 10 bis 64). Jenes jüdischen Christenverfolgers Saul, den eine ungeheure Christuserscheinung zu Boden warf, für Tage erblinden ließ und sein Leben umkrempelte. Aufs Tiefste von diesem auferstandenen Gottessohn ergriffen, dem er unter den Lebenden nie begegnet war, wurde er zum wichtigsten Verbreiter des Christentums.

Lehnert, dem das merkwürdig unperfekte Griechisch der Briefe dieses Apostels auffiel, erkennt einen unsicher Tastenden in ihm. Alles andere als der Systematiker, für den viele Theologen ihn halten. „Auf den Trümmern seiner Existenz stehend, ringt er um Sprache, darum, das Unfassliche zu fassen“, erklärte der Dichter. „Das ist ein hoch experimenteller Text.“ In seinem Buch heißt es: „Paulus, der Stotterer im Geist, sucht nach Worten.“

„Ich lese das als inspirierendes Experiment, an die Ursprungsdynamiken des Christentums heranzukommen“, sagte Ulrike Irrgang, Direktorin der Katholischen Akademie. Wobei sie fremdele mit Paulus, wie sie bekannte. Dessen Konzentration auf den Kreuzestod lasse Christi Wirken außen vor. Lehnerthabe ihn ihr dennoch nähergebracht. Als einen, der seine Existenz darin sehe, Brief und Sendung zu sein. Als jemand, der eine neue Sprache fand. Und der darin Anwesenheit und gleichzeitige Abwesenheit Gottes fasste. „In dieser Grundspannung steht auch Kirche.“

Theologie sieht Christian Lehnertder Kunst näher als der Philosophie. Auch das Fragmentarische sei der Kunst gemäßer, pflichtete ihm Bernd Heise bei, Direktor des Leonhardi-Museums.

„Der Gott in einer Nuß“. Dieser zweite Essay ist Lehnerts am meisten gelesenes Buch, nach vier Auflagen wird es mittlerweile als Taschenbuch verkauft. Es verbindet das Ausleuchten von Tiefenschichten des Gottesdienstes mit Episoden, Begegnungen eines Pfarrers im Dorf.

Burkart Pilz, als Oberlandeskirchenrat Bildungsdezernent der lutherischen Landeskirche, entdeckt Schmerzpunkte und Anfragen in diesem Buch. Ihm seien Gefahren deutlich geworden, denen seine kleiner werdende Kirche ausgesetzt ist. Was ihn am meisten beschäftigt: das Ringen um Verständlichkeit. Das Irritierende Gottes dürfe man zwar nicht eindimensional vereinfachen. „Doch Kommunikation sucht Anschlusspunkte an das Leben der Menschen.“ Ebenso hat Burkart Pilz das gemeinschaftliche Erleben der Liturgie im Blick. „Ich bin nie ganz nur ich und allein im Gottesdienstraum.“

Betrachter erst einmal zu befremden - dies täten auch Maler mit ihren Bildern, warf Bernd Heise ein, der eifrig Gegenakzente zum Übergewicht der Wortmeldungen von Theologen setzte. Menschen, die etwas ratlos in einer Ausstellung stünden, sage er manchmal: „Der Künstler hat sich solche Mühe gegeben damit, meinst du, du kannst das so wegkonsumieren?“ Also: Verständnis wecken - ja. „Aber das Kunstwerk dabei nicht ärmer machen.“

Lehnert dankte ihm für diese Bemerkungen. Denn Ähnliches beobachte er in der Religion: Sie unter dem Stichwort der „Beheimatung“ allzu sehr in eindeutige Verständlichkeit aufzulösen. „Wir setzen uns zu wenig der Fremdheit dieses Gottes aus.“

„Ins Innere hinaus“. Dieser Essay über Engel ziele in genau diese Richtung, so Lehnert. Er stelle die Frage nach religiöser Erfahrung. „Wie kann man Fremdes erfahren ohne dass sich dessen Fremdheit auflöst?“

Stephan Bickhardt, Direktor der Evangelischen Akademie, beeindruckt, wie die Poetologie des Lyrikers auch seine Essays bestimmt. „Hier stiftet Sprache Neuland.“ Auch Nachbarn mit ihren Träumen würdige Lehnert als Gestalten, die auf Gott hinweisen.

„Das Haus und das Lamm“. Dieses vierte Buch kreise um die Frage: Was heißt zu wohnen, zu Hause zu sein? Und um die Denkfigur, dass Altes zerstört werden muss, damit Neues entstehen kann.

Welch großen Raum Naturbetrachtung, „Nature Writing“ darin einnimmt, ist dem Dichter Uwe Kolbe aufgefallen. Lehnert, dieser „paradoxe Wortkupferstecher“, zwinge einen, genau hinzusehen. Am Ende stehe ein großes Nein zum Tod. „Dieses Buch erkämpft sich den Glauben, der es zugleich trägt.“

Erst am Ende war das fünfstündige, hoch konzentrierte Langstreckengespräch damit bei einer für Christian Lehnert zentralen Betrachtungsweise angelangt. „Diesen Sinn des Lebens kann ich nur glauben“, erklärte er. „Benennen kann ich ihn nicht.“

 

DBZ Redaktion

Der Schweizer Architekt Roger Boltshauser wird mit dem Semperpreis 2024 der Sächsischen Akademie der Künste ausgezeichnet. Mit Boltshauser würdige die Akademie einen Architekten, der sich seit über 20 Jahren mit nachhaltigen Baumaterialien und innovativen Energiekonzepten beschäftigt, heißt es in der Pressemitteilung.

Bekannt ist Boltshauser unter anderem für die Verwendung des über lange Zeit vergessenen Materials Lehm, das er auch in größeren und komplexen Bauten auf verschiedene Weise einsetzt und mit anderen Materialien kombiniert. In seiner Arbeit an der Schnittstelle zwischen Lehre, Forschung und seiner Tätigkeit als Architekt gehe es ihm darum, mit weniger CO2-Emissionen zu bauen und dabei den Baustoff Lehm aus seiner Nische zu holen.

Seit den 1990er Jahren beeindruckt der Schweizer Architekt mit seinen Bauten, die hohes ästhetisches Können mit einem tiefen Verständnis für die Komplexität des Bauens vereinen. Roger Boltshauser versteht seine Architektur nicht als Ergebnis rein fachspezifischer Überlegungen, immer lässt er seine Zeichenkunst in seine Entwürfe einfließen (s. dazu auch eine Buchrezension in der DBZ). Er erliegt nicht der Versuchung, auf bewährte Lösungen zurückzugreifen, sondern versucht immer wieder, neue Antworten auf komplexe Probleme zu finden und agiert dabei oft mit anderen Disziplinen.

Seine Bauten zeugen von einem großen Interesse an Materialien, insbesondere Erde als Baustoff. Er hat mit Stampflehm experimentiert, diesen mit anderen Baustoffen kombiniert und damit hybride Architekturen entwickelt, in denen archaische und technisch-moderne Konstruktionen zu ungewohnten Ausdrucksformen verschmelzen. So hat Boltshauser früh den Weg zu einer nachhaltigen Architektur beschritten und gezeigt, dass traditionelle Baumethoden auch heute von großer Bedeutung sein können.

Mit dem Semperpreis möchte die Sächsische Akademie der Künste Architektinnen oder Architekten würdigen, deren Werk sich durch höchsten künstlerischen Anspruch, nachhaltiges Bauen im Sinne ressourcenschonender Umweltgestaltung und besondere Innovationskraft auszeichnet. Über die Vergabe des Preises entschied eine Jury aus Mitgliedern der Klasse Baukunst von Prof. Dr. Annette Menting und Prof. Ivan Reimann sowie dem Präsidenten der Sächsischen Akademie der Künste, Prof. Dr. Wolfgang Holler. Der Findungskommission gehörte außerdem der Preisträger des Jahres 2022, der Münchner Architekt Florian Nagler, an.

Die Preisverleihung an Roger Boltshauser findet am Abend des 24. Oktober 2024 im Blockhaus in Dresden, Archiv der Avantgarden statt. Wer so lange nicht warten möchte: Roger Boltshauser hält im Rahmen des ostwestfälischen Kulturfestivals "Wege durch das Land" die diesjährige „Rede an die Architektur“. Sie findet am 8. Juni 2024 um 18:00 Uhr im Technischen Rathaus in Bielefeld statt. Sein Vortrag steht unter dem Thema "Tradition, Material und Potential". Information und Karten hier

Die "Rede an die Architektur" hält Roger Boltshauser in dem vielen immer noch unbekannten Technischen Rathaus Bielefeld. Von Hanns Thiele 1952 erbaut, weist es typischen Merkmale der 1950er-Jahre auf und wurde in den 2010ern umfassend saniert und erweitert (Müller Reimann, Berlin). Das vielleicht signifikanteste Element des Altbaus ist ein weitschwingender Treppenlauf an der einstigen Rückfassade des Gebäudes. Geschickt wurde diese genutzt, um eine große, über alle Stockwerke reichende Halle zu realisieren, die nun Alt- und Neubau mit größter Selbstverständlichkeit verbindet. Ein architektonisches Meisterwerk, das Tradition und Moderne vereint.

 

Torsten Klaus

Dresdens Palaisplatz klingt zwar wie eine herrschaftliche Adresse, ist aber kein Ort, zu dem es Besuchermassen zieht - mit Ausnahme der Kinderbiennale im Japanischen Palais vielleicht. Nur wenige Schritte von dort entfernt ist die Sächsische Akademie der Künste zu Hause. Und wer einmal in den beengten Räumen war, fragt sich allein schon, wie hier Veranstaltungen über die Bühne gehen. Platz für Publikum ist jedenfalls kaum.

Einst war die Akademie im Blockhaus daheim, bis 2013 die Elbe mal wieder Hochwasser führte. Dann folgte der Auszug und später der Umbau für das Archiv der Avantgarden, das Anfang Mai seine Tore für die Besucher öffnet. Für die SADK ein bittersüßer Moment.

Präsident Wolfgang Holler will aber gar nicht im Damals baden. Ihm und auch seinem Vize Ekkehard Klemm geht es um die Verfasstheit des Hauses - und um die Zukunft. Am 15. April wird sich die Akademie im Kulturausschuss des Landtages vorstellen. Mit Plänen und Problemen.

„Die Akademie sollte eine Denkfabrik sein“, sagt Holler. Ideen gebe es auch viele aus den fünf Klassen, die die Einrichtung beherbergt. Allein enge personelle wie Budgetgrenzen sorgen jedoch dafür, dass vieles gar nicht über das Stadium des Vorhabens hinauskommt. Die allermeiste Arbeit hier wird ehrenamtlich geleistet (unter anderen von Holler und Klemm sowie den Sekretären der einzelnen Klassen: Baukunst, Bildende Kunst, Darstellende Kunst und Film, Literatur und Sprachpflege, Musik). Die Akademie verfügt über 3,25 Mitarbeiterstellen und einen Jahresetat von 548 500 Euro, wovon wiederum 70 000 Euro für Veranstaltungen ausgegeben werden können.

Die SADK sieht aber - über die Jahre zum wiederholten Mal - einen eklatanten Widerspruch zwischen ihrer kargen Ausstattung und ihren gesetzlich festgelegten Aufgaben: die Öffentlichkeit mit wichtigen künstlerischen Leistungen, Positionen und Prozessen bekannt zu machen. Sie pflegt Verbindungen zu anderen künstlerischen Gesellschaften, Einrichtungen und Personen, ist international vernetzt.

Holler betont jedoch nicht die Misere. Er sieht das Haus, trotz allem, gut entwickelt mit seinen Länderschwerpunkten Polen, Tschechien, Ukraine - „ganz anders als andere Akademien“. Die SADK beschäftigt sich längst nicht nur mit Sachsen, wie es ihr Name nahelegen würde, sondern mit dem gesamten mitteldeutschen Raum, wie Klemm erzählt.

Der Präsident bleibt bei seinen finanziellen Forderungen moderat. Der Etat soll um 100 000 Euro wachsen, dann nochmal um dieselbe Summe. Stellen würde er gern aufstocken. Trotz der unbefriedigenden Ortslage in Dresden spielen Abwanderungsgedanken übrigens keine Rolle, wie Holler und Klemm auf Nachfrage unisono wissen lassen.

Ende Mai soll es wieder eine Mitgliederversammlung geben, neue Köpfe dürften in die Akademie gewählt werden. Vielleicht ist sogar ein richtig großer Name dabei...

Die Aufgaben, die vor der Akademie liegen, sind klar: weiblicher werden (derzeitiger Frauenanteil: 23 Prozent), generell attraktiver. Auch die Social-Media-Auftritte sind bislang eher noch mau.

Holler will jedenfalls, mit Hilfe der Landespolitik, die Möglichkeiten und Ressourcen der Akademie endlich angemessen nutzen. Dazu gehört auch der Gang in ländliche Regionen, wozu es schon Überlegungen gibt. Die SADK führt noch ein Schattendasein. Dabei aber sollte es, nimmt man den Auftrag an das Haus ernst, nicht bleiben. Oder wie Holler sagt: "Wir sind keine Provinznudeln."

 

Fionn Klose

Es herrscht Unmut an der Sächsischen Akademie der Künste in Dresden. Grund seien zu geringe finanzielle und personelle Ressourcen. "Es ist ein Klagelied, das sich seit den Anfängen bis heute hinzieht", sagt Präsident Wolfgang Holler. Vor genau 30 Jahren wurde die Sächsische Akademie der Künste per Gründungsgesetz ins Leben gerufen. Darin steht, die Akademie habe die Aufgabe, "die Kunst zu fördern, Vorschläge zu ihrer Förderung zu machen und die Überlieferungen des traditionellen sächsischen Kulturraums zu pflegen".

Aufgaben, die die Akademie wegen ihrer personellen und finanziellen Situation nur schwer bewältigen kann. Dabei arbeitet sie größtenteils ehrenamtlich und mit vielen Überstunden. In einem vor Kurzem veröffentlichten Memorandum klärt Holler über die Lage seiner Akademie auf: "Mit den gegenwärtig 3,25 Mitarbeiterstellen, die aus einem Gesamtetat von 548.500 Euro finanziert werden, ist die Akademie nicht in der Lage, die ihr übertragenen Aufgaben adäquat zu erfüllen." Auch die hohen Betriebskosten, Raummieten und Honorare für freie Mitarbeiter spielten eine Rolle.

Die Akademie wünsche sich mehr Mitarbeiterstellen. "Und wir würden gerne versuchen, unsere Sachmittel im ersten Schritt um 100.000 Euro aufzustocken und in einem zweiten um noch mal 100.000 Euro", sagt Holler.

Trotz der schwierigen Situation nimmt sich die Akademie immer wieder viel vor. Jährlich bietet sie rund 35 Veranstaltungen wie Lesungen oder Podiumsdiskussionen an, teilweise mit internationalen Gästen und Bundespolitikern. In diesem Jahr nimmt sie mit sieben Veranstaltungen an der Buchmesse Leipzig teil. Auch ein Kolloquium zum Wiederaufbau zerstörter Städte und Kulturbauten in der Ukraine ist geplant.

Sächsische Zeitung / sächsische.de / Fionn Klose

 

2023

Herkunft aus der verlorenen Weltmitte: Chamisso-Preisträgerin Iris Wolff erklärt uns in ihrer Poetikvorlesung, wie Erinnerung zu Literatur wird.

Tomas Gärtner

Es muss wie ein Lebensauftrag für Iris Wolff gewesen sein. 1977 im siebenbürgischen Hermannstadt geboren, aufgewachsen in Semlak, einem Dorf im Banat, wanderten die Eltern 1985 mit ihr nach Westdeutschland aus. »Weil es diesen Bruch gab, war die Verpflichtung zur Erinnerung da«, erzählte die Schriftstellerin im Gespräch mit dem Dichter Christian Lehnert zu ihrer zweiten Chamisso-Poetikvorlesung in der Sächsischen Akademie der Künste.

Von einem Tag auf den anderen waren Landschaft, Dorfgemeinschaft weg, alles, was dem Kind Zugehörigkeit garantierte. »Ich war mit dem Gefühl aufgewachsen, in der Mitte der Welt zu leben.« Ohne diesen Verlust, meint sie, wäre sie nie Schriftstellerin geworden. Um diese Weltmitte nicht zu verlieren, muss sie sich erinnern. Bis heute ist das der Motor ihres Schreibens. Andere verfassten aus solchen Impulsen der Sehnsucht heraus Memoiren. Iris Wolff indes gelingt eine poetische, »in jeder Hinsicht zauberhafte« Prosa, so Christian Lehnert.

Das hat zuerst wohl mit einer besonderen Art der Wahrnehmung zu tun. Einer, die auch der Titel ihres jüngsten Romans benennt: »Die Unschärfe der Welt« . Ihre Aufmerksamkeit ist nicht scharf gestellt auf die Oberfläche vereinzelter Dinge. »Manchmal bin ich auf Ahnungen, Gespür, Intuition angewiesen.« Sie versucht, gängigen Wahrnehmungskonventionen zu entkommen, sich nicht den erlernten Deutungen zu überlassen. Sehen und Begreifen vollziehen sich als Anverwandlung. So auch betrachtet Literatur die Welt durch die Augen von Figuren, legt sich nicht auf eine Sicht fest.

Beim Beschreiben sind Iris Wolff nicht nur Worte wichtig, ebenso der Raum zwischen ihnen. Lücken, zeitliche Sprünge bleiben. »Ich schreibe mit offenen, unbeschriebenen Rändern.« So entstehen Bilder, die sich mit denen ihrer Leser mischen. Und es knüpft sich ein Geflecht von Beziehungen, das ihre Figuren miteinander verbindet. Verbundenheit bedeute, Menschen in ihrer Schwäche und Verletzlichkeit wahrzunehmen. Auch Tiere und Pflanzen, selbst Steine und Berge gehören für sie dazu. »Ich träume vom grenzenlosen Mitfühlen mit allen Kreaturen.«

Sie will wissen, was Menschen sind und was sie sein könnten. Etwas aber bleibe dabei unberührt. »Ich schreibe aus der Erfahrung heraus, dass alles aus einem Ursprung kommt, über den ich nicht ganz verfüge.« Diesen eigentlichen Ursprung des Lebens nennt sie »Dunkelheit« Bei dem Polen Adam Zagajewski hat sie ein Bild dafür gefunden: »Dichter betrachten das, was ist, im Licht eines Streichholzes.« Poesie erhelle einen dunklen Raum.

Eine Vorliebe hegt die Autorin für Originale.»Das führt mich immer wieder nach Transsilvanien, weil des dort Käuze gibt.« Menschen, die sich wunderlich kleiden und verhalten, wunderlich reden, mit derbem, zupackendem Humor, was an magisches Denken rühre. »Sie hätten nicht die geringste Chance auf dem Freiburger Wohnungsmarkt.«

Literatur kann eine andere Ordnung schaffen als die des chronologischen Nacheinanders. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - alles geschieht gleichzeitig. Die Herausforderung für das Schreiben sei, diese Simultaneität in Linearität zu übersetzen. »Literatur muss an das Unverfügbare rühren, an diese vertikale Zeit. Dann erst wird sie Poesie.«

Jeder Mensch setzt sein Leben, seine Identität aus Erinnerungen zusammen. Zugleich vergisst er vieles. Das eine wird hervorgehoben, anderes verschwiegen. »Es ist ein Spiel aus Zeigen und Verbergen.« Inseln ragen aus dem Meer des Vergessens. Das Bild dafür hat sich Iris Wolf von der Philosophin Maria Zambrano geliehen: »Lichtungen«. In der Prosa sucht Iris Wolff das Momenthafte. Einzelne Bilder öffnen sich. »Ich sehe meine Figuren immer nur in Augenblicken.«

In ihrer Weltwahrnehmung erkennt diese Autorin eine Verwandtschaft zur Frühromantik. Die versuchte, in der Poesie die Einheit von Natur und Mensch herzustellen. Ich und Welt bestehen für Iris Wolff aus derselben Substanz. Der Einzelne lässt sich nicht heraustrennen. Individualität ist in ihren Augen kein völliges Losgelöstsein. »Leben ist, wenn wir verbunden sind mit dem in uns und mit dem, was uns umgibt.«

 

Dresdner Chamisso-Preis für Autorin Iris Wolff. Die Hermannstädterin Iris Wolff nenn sich eine Geschichtensammlerin auf Lebenszeit und erzählt in Dresden von der Furie des Verschwindens.

Karin Großmann

Iris Wolff war acht Jahre alt, als sie mit ihrer Familie Siebenbürgen verließ. In ihren Romanen hält sie die deutsche Kindheit in Rumänien lebendig mit Pfarrhaus, Dorfplatz, Wollwäscherei und einem Fischverkäufer im Schnee. Der Nebel steht wie geschäumte Milch um die Berge. In einer dünnen Wasserlinie verläuft sich der Horizont. „Jede Generation ist das Gedächtnis der vorangegangenen“, heißt es in ihrem Roman „Die Unschärfe der Welt“. Wenn jemand stirbt, ist der Faden zwar abgeschnitten. Aber er bleibt nicht lose in der Luft hängen. Er wird wieder aufgenommen von den Menschen, die sich an die Verstorbenen erinnern.

Dieser Arbeit geht die 46-jährige Autorin nach. Sie nennt sich eine Geschichtensammlerin auf Lebenszeit. Am Freitagabend wurde sie in Dresden mit dem Chamisso-Preis ausgezeichnet. Er ist mit 5.000 Euro dotiert und gilt einem herausragenden literarischen Werk, das aus migrantischer Erfahrung entsteht. Anders als viele Schriftstellerinnen, die aus Ex-Jugoslawien oder der untergegangenen Sowjetunion nach Deutschland kommen, brauchte Iris Wolff die neue Sprache nicht erst zu lernen.

Doch das Fremdsein erlebte sie ähnlich. Den Bruch der Identität. Das Herausgerissensein aus vertrauten Zusammenhängen. Sie hält das Staunen fest über deutsche Supermärkte, die so groß sind wie Lagerhallen. Notiert, dass viele Familien zwei Autos besitzen. Aber niemand sitzt vor dem Haus. „Heimat ist nicht nur Herkunft, sondern auch Ankunft“, sagt Iris Wolff in ihrer Dankrede. Der Blick zurück sei notwendig und doch stets verbunden mit der Sehnsucht nach Neuem. Von Wurzeln zu sprechen hieße, man müsse bleiben, woher man kam. Sie aber möchte nicht festgelegt werden. Daraus resultiert das, was sie ironisch ihre „Wurzelmetaphernskepsis“ nennt.

Auch Wolfgang Holler, Präsident der Sächsischen Akademie der Künste, sieht in der Emigration nicht nur einen Schicksalsschlag, sondern zugleich eine Chance. Das erklärt er am Beispiel des Bauhauses: Dieser „übersprudelnde Ideenpool“ mit Lehrern und Studenten aus 29 Ländern endete 1933 abrupt – doch die Emigranten nahmen die Ideen mit und verbreiteten sie in Amerika, Israel, der Sowjetunion und anderen Ländern. So kam das Bauhaus in die Welt. Holler fordert dazu auf, die Empathie mit Emigranten zu trainieren, um nicht abzustumpfen. „Opfer, die ihre Heimat verlassen müssen, werden anderswo als Täter angesehen.“

Iris Wolff erzählt, dass sie nur wenig mitnehmen konnte aus Hermannstadt. Deshalb habe alles einen Wert. Das verstecke sie in ihren Büchern. „Lichtungen“ heißt der Roman, der im Januar erscheint. „Unsere wacklige Welt wird in der Sprache der Autorin ein Ganzes“, sagt der Journalist und Filmregisseur Carsten Hueck in seiner Laudatio. Ihrer Literatur sei die Stille eingeschrieben. Sie habe einen Blick für das Liebenswerte der Menschen, ohne deren Schrulligkeit auszublenden. Hueck nennt Iris Wolff eine moderne Romantikerin, eine Grenzgängerin zwischen Ländern, zwischen Schweigen und Sprechen, Vergangenem und Gegenwärtigem, Tatsachen und Ahnungen. Manches hat sie mit dem Namensgeber des Preises Adelbert von Chamisso gemeinsam.

Wie der Dichter aus Frankreich, der mit 15 nach Deutschland kam, wolle sie „die Furie des Verschwindens“ bewusst machen, sagt der Dresdner Literaturwissenschaftler Walter Schmitz. „Wer auswandert, erfährt, wie etwas plötzlich oder allmählich aus dem Leben verschwindet. Die Rückkehr aber findet alles verwandelt unter dem Gesetz der Zeit.“ Von dieser schmerzhaften Urerfahrung erzählt Iris Wolff.

Der Chamisso-Preis hat nach einigem Stolpern seinen neuen Platz gefunden. Nach dem Rückzug der Bosch-Stiftung, die ihn mehr als 30 Jahre lang bis 2017 vergab, kümmerten sich Dresdner um die Fortsetzung. Zunächst war das Kunstzentrum Hellerau im Namen verankert. Andere Autoren wurden zu einer Chamisso-Poetikdozentur eingeladen. Von nun an halten die Preisträger sinnvollerweise auch die Vorlesungen. Die Akademie der Künste und der von Walter Schmitz gegründete Verein Bildung und Gesellschaft tragen das Projekt gemeinsam mit weiteren Förderern.

Iris Wolff hält am 27. und 29. November, 19 Uhr, in der Sächsischen Akademie der Künste in Dresden ihre Chamisso-Poetikdozentur.

© Alle Rechte vorbehalten. Sächsische Zeitung / sächsische.de / Karin Großmann

 

Brüche und Erinnerungen: Die Schriftstellerin Iris Wolff ist in Dresden mit dem Chamisso-Preis geehrt worden. Der Preis wird an Schriftsteller mit migrantischen Wurzeln verliehen, welche hochwertige deutsche Literatur produzieren.

Tomas Gärtner

Dresden. „Faszinierend“, „bewegend“, „ergreifend“ – weg mit diesen klingelnden Attributen des Literaturmarketings. Ein „wertvolles Geschenk“ – das sollte über die Bücher von Iris Wolff gesagt werden, meint Carsten Hueck. So bekannte sich der Radiojournalist (Deutschlandfunk Kultur) in seiner Laudatio dazu, ein Beschenkter zu sein. Und erklärte, wofür die 1977 im siebenbürgischen Hermannstadt (Sibiu) geborene Schriftstellerin, deren Eltern 1985 mit ihr nach Deutschland auswanderten, den diesjährigen Chamisso-Preis verdiente: Schon von „Halber Stein“ an, ihrem 2012 erschienenen Debütroman, fordere sie uns Leser auf, ihren Worten nachzuspüren, um mehr über uns selbst zu erfahren. Besonders eindrucksvoll aber mit ihrem jüngsten Roman „Die Unschärfe der Welt“ (Klett-Cotta, 2020).

Siebenbürgen und das Banat seien der Echoraum geblieben, „aus dem Gefühle, Bilder und Wahrnehmungen in die Gegenwart deuten“, so Carsten Hueck. Noch breitet sich dort die Landschaft mit den Kirchenburgen. Aber alles ist Kulisse geworden. Die Dorfgemeinschaften, die Menschen fehlen. So erzählt Iris Wolff vom Verschwinden, Zurücklassen, von Ortlosigkeit, vom Unwägbaren des Lebens.

Brüche durchziehen ihre Texte, auch Gewalt. Dennoch attestiert Carsten Hueck ihr einen Blick für das Liebenswerte der Menschen, ohne deren Abgründe auszublenden. Auch ein menschenfreundlicher Humor werde deutlich. Ihre Figuren vergesse man nicht. Damit habe sie den Raum des Individuums geöffnet. Mit ihrer Literatur könne man deren Wahrheit und Welt erkunden. „Sie hat die Sensibilität, Geduld und den Erfahrungsschatz dafür.“

Prächtig lässt sie die Natur auferstehen, in der sie sich bewegen – ganz Romantikerin; nie jedoch Schwärmerin. Nur die Empfänglichkeit für Schönheit und Empfindsamkeit spricht sie an. Das geht gelegentlich bis zur mystisch-ekstatischen Vereinigung: Berge werden zur eigenen Haut, Ströme zu Adern.

Als „kunstvoll gearbeitet“ preist Carsten Hueck ihre Sätze. Ihre Worte bieten ein Gespräch an. Immer wieder fragt sie nach Erinnerungen, danach, wo man zu Hause ist. Was er vor allem in ihr sieht: eine Grenzgängerin – zwischen Sprachen und Ländern, Sprechen und Schweigen, Vergangenheit und Gegenwart. Ruhe und Stille erlebe man in ihren Texten. Durch ihre „Zauberworte“ werde man als Leser wacher und neugieriger, resümiert Carsten Hueck. „Sie schenkt uns viele Momente von Übereinstimmung und Verständnis des Anderen.“

Iris Wolff, die in Freiburg im Breisgau lebt, bekannte sich in ihren Dankesworten dazu, dass Menschen Wurzeln brauchen. „Dieses rauschhafte Unterwegssein, diese Geschwindigkeit und Gefährdung der Welt führt zu Wurzellosigkeit“, konstatiert sie.

Sie schöpft aus ihren Erinnerungen und Erfahrungen und denen ihrer Eltern und Großeltern, bewahrt Dinge, indem sie die in ihre Romane einstreut. Orte, Räume und Landschaft sind ihr ebenso wichtig wie die Figuren. „Die Grenzen der Haut sind nicht die Grenzen unserer selbst.“

Bäume, Pflanzen sind ihr unerlässlich. Sie bewundert, wie mutig, stark und geduldig sie sind, wie sozial auch, verbunden durch ein unterirdisches Netzwerk. Für die Literatur werden sie zu Metaphern. Gegen das kleingeistige Pochen mancher Leser aufs Reale verteidigt sie literarische Freiheit und Phantasie.

Heimat ist für Iris Wolff mehr als Herkunft, auch Ankunft in etwas Anderem. So geht es bei ihr nicht nur um Erinnerung, auch um Wege, Bewegung, Verwandlung, neue Anfänge. Zukunft will sie nicht nur aus Vergangenheit heraus schaffen. Dennoch möchte sie begreifen, wie sie geworden ist, den Kosmos und die Koordinaten ihres Lebens erfassen. Dazu brauche es Metaphern und Symbole. „Unser Leben ist ein Geheimnis, von dem nur wenig ins Bewusste kommt.“

 

Der Chamisso-Preis ehrt Autorinnen und Autoren mit migrantischer Erfahrung, die in deutscher Sprache Werke von hohem literarischen Rang schaffen. Dazu gehört erstmals auch die Chamisso-Poetikdozentur, in zwei Vorlesungen am 27. und 29. November. Dotiert ist der Preis mit 9000 Euro. Vergeben wird er von einem gemeinnützigen Verein und der Sächsischen Akademie der Künste.

 

Windkünstler

MDR Sachsenspiegel, 29. September 2023

Beitrag von Adina Rieckmann

Die größte Künstlerin ist die Natur, meint der japanische Zeichner Rikuo Ueda. Ihm wurde am Freitag der Hans-Theo-Richter-Preis 2023 verliehen.

Birgit Grimm

Steine, Äste und Schnüre, Stifte und Papier, ein kleines Wasserbecken oder eine Weinflasche, manchmal auch Radierplatte und Radiernadel oder Tusche und ein Stofffetzen oder eine aufgerissene Zigarettenschachtel. Das sind die Utensilien, aus denen Rikuo Ueda eine Apparatur baut, die wunderbar zeichnet – ohne jeden weiteren Eingriff des Künstlers. Er kümmert sich lediglich um die optimalen Bedingungen, damit die Natur ihr Werk tun kann, und lässt sich vom Ergebnis überraschen. Denn was dabei herauskommt, weiß ganz allein der Wind. Mit dem ist der Japaner eine Art Verschwörung eingegangen. Begonnen hat er damit 1984, fing den Wind in Filmbüchsen ein, kleinen Plastikdosen, die längst museumsreif sind.

1997 ließ er in Dänemark das erste Mal den Wind für sich zeichnen. Seitdem sind an vielen Orten der Welt Windzeichnungen entstanden. In der zu Ende gehenden Woche auch in Dresden. In dem kleinen Park am Palaisplatz, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Räumlichkeiten der Sächsischen Akademie der Künste (SAdK), steht eine alte Buche. An der hat Ueda diverse Utensilien befestigt, die sich am Freitagmittag sacht im säuselnden Wind bewegten. Um eine Weinflasche der Hausmarke des Freundeskreises des Kupferstich-Kabinetts, die er in Dresden nicht allein geleert hatte, hat Rikuo Ueda ein Blatt Papier gebunden. Eine blaue Kulimine setzt ab und an einen Punkt aufs Papier, zieht winzige Striche oder tanzt einfach nur ziellos im Wind, der sich jedoch vornehm zurückhält.

Sogar einen Taifun hat Rikuo Ueda zeichnen lassen. Aber was, wenn sich gar kein Lüftchen regen würde und das Blatt weiß bliebe? Was, wenn der Regen die Punkte und Striche verwischen würde? „Auch das akzeptiert der Künstler. Er hat eine spirituelle Verbindung zur Natur“, sagt Stephanie Buck. Als Direktorin des Kupferstich-Kabinetts und Mitglied der Klasse Bildende Kunst der Sächsischen Akademie der Künste arbeitet sie in der Jury für den mit 20.000 Euro dotierten Hans-Theo-Richter-Preis mit. Den bekam am Freitagabend Rikuo Ueda festlich überreicht.

Das Kupferstich-Kabinett ist neben den seit 1998 geehrten Zeichnerinnen und Grafikern Nutznießer dieser Ehrung, die Wolfgang Holler, Präsident der SAdK, scherzhaft einen „Knebelpreis“ nennt. Denn immer gehen Preisträgerarbeiten als Schenkung in den Bestand des Kabinetts, auch in diesem Jahr. Den Preis hatte einst Hildegard Richter, die Witwe des genialen Zeichners Hans-Theo, ins Leben gerufen, als sie die Stiftung im Namen ihres Mannes gründete. Erster Preisträger war 1998 übrigens der Dresdner Max Uhlig, der in diesem Jahr Rikuo Ueda vorgeschlagen hatte.

Ueda bedankte sich nicht nur bei den Preisstiftern und Kuratoren, sondern auch bei der Natur, den Bergen, Flüssen, Tieren, Pflanzen und Insekten, den Orten seiner Reisen. Als 23-Jähriger zog der 1950 in Osaka geborene Ueda neugierig in die Welt, bereiste Europa, den Nahen Osten, Asien. Als er nach drei Jahren zurückkehrte, fragte sein Vater, der wohl wenig begeistert war von der langen Abwesenheit des Sohnes, ob er denn wenigstens etwas gelernt habe. Er antwortete: „Ich habe gelernt, dass der Mensch ein Wesen ist, das nicht alleine existieren kann.“ Diese Erkenntnis bestimmt Uedas naturverbundenes, künstlerisches Schaffen und prägt sein Leben.

Er erzählte von einem großen Park in der Nähe seines Hauses in Osaka, in dem er oft arbeitet. „Frühmorgens, wenn ich dort Stift und Papier am Ast eines Baumes befestige, fragen Spaziergänger gelegentlich, was ich da mache. Es ist schwer zu erklären, aber wenn ich ihnen sage, dass ich Zeichnungen im Wind mache, lächeln sie alle. Für mich ist das der glücklichste Moment. Ich habe das Gefühl, dass ich meine Arbeit für dieses besondere Lächeln mache.“ Mit seinen Arbeiten will er zeigen, dass wir alle Teil der Natur sind.

Während der Woche, die er in Dresden weilte, arbeitete der Wind nicht nur in Sachsen, sondern auch in Japan für ihn. Nicht immer bleiben die Zeichenutensilien tage- oder gar wochenlang im Baum. Manchmal ist es nur eine Sache von Sekunden. Er habe nicht immer Zeit, den ganzen Tag aufzupassen, er müsse auch arbeiten, sagt Ueda. Und überhaupt sei der Wind der Künstler. „Ich bin nur sein Assistent.“

Bis zum 23. Oktober 2023 sind im Studiensaal des Kupferstich-Kabinetts im Dresdner Residenzschloss sieben Werke von Rikuo Ueda präsentiert.

© Alle Rechte vorbehalten. Sächsische Zeitung / sächsische.de / Birgit Grimm

Am 29. September 2023 wurde in der Sächsischen Akademie der Künste zum 13. Mal der durch die Hildegard und Hans Theo Richter Stiftung mit 20000 Euro dotierte Hans Theo Richter-Preis vergeben. Preisträger ist der japanische Künstler Rikuo Ueda (geb. 1950 in Osaka). Der bereits mehrfach geehrte und weltweit tätige Künstler ist mit seinen, seit 1997 entstehenden ungewöhnlichen „Windzeichnungen“ und den damit verbundenen Installationen bekannt geworden. Eine Auswahl dieser Zeichnungen, die von der Mikiko Sato Gallery Hamburg zur Verfügung gestellt wurde, ist bis zum Anfang kommenden Jahres in der Sächsischen Akademie der Künste zu sehen.

Lisa Werner-Art

Ganz glücklich zeigten sich Wolfgang Holler, Präsident der Sächsischen Akademie der Künste, und Stephanie Buck, Direktorin des Kupferstich-Kabinetts der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, beim gestrigen Pressetermin, dass der diesjährige Hans Theo Richter-Preis an den japanischen Künstler Rikuo Ueda geht. Zur Jury gehörten neben Buck und Holler die Mitglieder der Klasse Bildende Kunst der Akademie sowie die Vorstände der Hildegard und Hans Theo Richter-Stiftung Christiane Meinhold und Sebastian Schmidt. Der Name des 13. Preisträgers ist in Dresden kein ganz unbekannter. Bereits in der 2015 von Michael Hering kuratierten Ausstellung „Disegno“ war Ueda vertreten. Seit dieser Zeit besitzt das Kupferstich-Kabinett auch einige Arbeiten von ihm. Nun kommt noch einmal ein „Schwung“ dazu, ist der mit 20000 Euro dotierte Preis doch immer mit einer Schenkung an die Sammlung verbunden. Ein schöner Umstand ist, dass Max Uhlig, 1998 der erste Hans Theo Richter-Preisträger, den japanischen Kollegen vorgeschlagen hat, wie von Wolfgang Holler zu hören war. Die Initiative zur Begründung des Preises und die damit verbundene Errichtung der Hildegard und Hans Theo Richter-Stiftung war von Hildegard Richter ausgegangen, wesentlich unterstützt von Werner Schmidt.

Fragt man nach dem, was die Zeichnungen von Rikuo Ueda so besonders macht, so ist es nicht zuletzt die spezifisch japanische Verbindung zur Natur, die sich in ihnen niederschlägt und ihnen eine spirituelle Aura verleiht. Der Künstler lässt, sehr vereinfacht gesagt, die Luftströmungen, ja den Wind - in Japan gibt es übrigens 2145 Namen für Wind und Hunderte für Regen - mit den unterschiedlichsten Mitteln für sich zeichnen. Mal ist es Kohle, mal eine Kulimine, mal ein Bleistift, mal sind es Ölstifte oder sogar ein Tuschpinsel. Was daraus entsteht, ist weitgehend dem Zufall überlassen. Je nachdem, wie stark die Luftströmungen sind, manifestieren sich auf den Blattgründen – es kann aber auch der Karton einer Zigarettenpackung oder das Etikett einer Flasche sein – dichtere oder weniger dichte Liniengeflechte. Mal erscheinen sie fast wie ein Gestrüpp oder Knäuel, mal netzartig. Manchmal benutzt er auch Radierplatten, die irgendwann dann auf Papier abgezogen werden. Grundsätzlich ist bei all dem: Unmittelbar hat der Künstler keinen Einfluss auf die entstehenden Formen.

Einfluss hat er aber insofern, dass er ein ganzes Equipment schafft, damit der Wind überhaupt Kunst-Spuren hinterlassen kann. Was sonst mit der Hand geführt wird, wird auf kunstvolle Weise an kleine Äste von Bäumen oder Sträuchern gebunden oder auch an große, schwerere Stäbe. Einen Eindruck von diesen Vorbereitungen und ihren Ergebnissen konnte man gestern im Park gegenüber dem Japanischen Palais gewinnen, wo Ueda mehrere kleine Installationen um und an einer großen Platane platziert hatte. Da war zu beobachten, wie der kleinste Lufthauch an zarte Äste gebundene Stifte über den unterschiedlichen Bildgrund sanft gleiten oder „zittern“ ließ. Damit es funktioniert, werden teils noch beschwerende Steine an die Äste gebunden. Manchmal lässt er den Bildträger auch im Wasser schwimmen.

Da Ueda keineswegs nur unter Schönwetterbedingungen arbeitet und zudem an vielen Orten der Welt unterwegs war und ist – Rügen und Dresden reihen sich zwischen nördlich kalten Gegenden und wüstenhaften Gefilden ein –, entsteht im künstlerischen Prozess eine ungeahnte Vielfalt von „Windzeichnungen“. Die Ausstellung in der Sächsischen Akademie der Künste, die anlässlich der Preisverleihung gestern eröffnet wurde, macht dies partiell sichtbar.

Zur Verfügung gestellt hat die Arbeiten aus verschiedenen Schaffensperioden die in Hamburg tätige Galeristin des Künstlers Mikiko Sato.                            

Für Rikuo Ueda, 1950 in Osaka geboren, der dazumal schon länger künstlerisch tätig war, wurde eine Künstlerresidenz in Dänemark im Jahr 1997 zum Wendepunkt: Seitdem lässt er den Wind mit Hilfe der beschriebenen Mittel seine Kapriolen auf Papier „zeichnen“. Manchmal auch hat er ihn real „eingefangen“ – in kleinen verschließbaren Glasgefäßen, die er dann in Kästen vereint. Dies alles hat bisher in einigen Preisen, zahlreichen Ausstellungen und der Verankerung in öffentlichen Sammlungen, außer in Deutschland natürlich in Japan sowie den USA, seinen Niederschlag gefunden. Rikuo Ueda habe der Zeichenkunst „eine völlig neue, gattungsübergreifende Dimension hinzugewonnen“, so Wolfgang Holler vor der Presse.

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Um mit konkreter Unterstützung in den Alltag von ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern hineinzuwirken, hat sich die Sächsische Akademie der Künste mit einem Spendenaufruf an ihre Mitglieder gewandt, um damit geflüchteten Künstlerinnen aus der Ukraine zu Unterkunft und Lebensunterhalt zu verhelfen. Von Oktober 2022 bis März 2023 hat die Akademie in Zusammenarbeit mit der Kultur- und Tourismusgesellschaft Pirna als Trägerin der Richard-Wagner-Stätten Graupa eine erste Stipendiatin, die ukrainische Dirigentin Nataliia Stets, einladen können. Michael Ernst hat sie rückblickend über diese Zeit befragt.

Michael Ernst

Die ukrainische Dirigentin Nataliia Stets findet Zuflucht im Richard-Wagner-Haus Graupa

Eine Kassandra sei sie nicht. Den russischen Überfall auf ihre Heimat hat die ukrainische Dirigentin Nataliia Stets aber durchaus erwartet. "Im übertragenen Sinne ist das für mich wie bei Tschechow gewesen: Wenn ein Gewehr an der Wand hängt, muss es irgendwann losgehen."

Für die junge Frau schwebte die Möglichkeit eines Kriegsausbruchs seit 2014 als Damoklesschwert über ihrem Land. Der unmittelbare Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 hat sie dann allerdings doch überrascht und schockiert, obwohl sie sich wie viele ihrer Landsleute bewusst war, dass die Ukraine seit der Krim-Annexion nicht mehr in Frieden gelassen worden ist. Dennoch dirigierte sie im Januar vergangenen Jahres in Kiew ein Konzert des Orchesters der Nationalen Akademie mit ukrainischer Musik. Wenig später wurde sie von Oksana Lyniv, der Generalmusikdirektorin am Teatro Comunale Bologna, zur Einstudierung von Antonín Dvoráks neunter Symphonie eingeladen. Just bei der Arbeit an dieser "Symphonie aus der Neuen Welt" erhielt sie zahllose Nachrichten über den soeben vollzogenen Angriff auf ihre Heimat.

An eine Rückkehr war da nicht mehr zu denken. Die beiden derzeit wohl bekanntesten Dirigentinnen aus der Ukraine zog es für eine Neuproduktion von Giacomo Puccinis "Turandot" nach Rom. Nataliia Stets hatte Oksana Lyniv bereits lange zuvor an der Oper Graz sowie im Sommer 2021 bei deren Bayreuther Debüt mit dem "Fliegenden Holländer" von Richard Wagner assistieren können. Schon als sehr junges Mädchen, räumt sie ein, habe sie von Bayreuth geträumt. Nun durfte sie die dortigen Probenprozesse begleiten und Oksana Lyniv dabei aus nächster Nähe bei der Arbeit beobachten.

Vielleicht war dies der erste wichtige Schritt in Richtung Wagner, der die Künstlerin zuletzt für ein halbes Jahr ins Lohengrin-Haus im sächsischen Graupa geführt hat. Lyniv, die unter anderem an der Musikhochschule im nahen Dresden studiert hatte, war kurz zuvor von ihrem einstigen Dirigier-Professor Ekkehard Klemm um Vorschläge für ein Stipendium gebeten worden, das die Sächsische Akademie der Künste gemeinsam mit den Wagner-Stätten Graupa ausloben wollte.

Es dauerte nicht lang, und Nataliia Stets, die zuvor für ein halbes Jahr am Theater Bielefeld tätig gewesen ist, durfte die Stipendiaten-Wohnung im traditionsreichen Lohengrin-Haus beziehen. So benannt, weil Richard Wagner während seiner Dresdner Anstellung als Hofkapellmeister 1846 dort erste Entwürfe zu seiner Oper um den Schwanenritter schuf. Bereits 1907 ist das einstige Bauernhaus Schäfersches Gut als weltweit erste Wagner-Gedenkstätte geweiht worden. Jedes Mal, wenn Nataliia nun diese Schwelle übertrat - etwa nach ausgiebigen Wanderungen auf Wagners Spuren -, habe sie zuerst den einstigen Gast begrüßen wollen, als würde dessen Geist noch immer diese Räume erfülle.

Gerade in dieser furchtbaren Zeit des gegen die Ukraine gerichteten Krieges sei dieses Stipendium ein bedeutsames Symbol, sagt Nataliia Stets. "Hier hat Richard Wagner an einem seiner ersten großen Erfolge arbeiten können. Dass ich nun hier sein darf, ist ein ganz wichtiges Zeichen für junge Künstler. Ideen haben zu dürfen und dafür zu kämpfen." Kunst und Kultur sehe sie als unverzichtbare Möglichkeiten, um Menschen einander nahezubringen und Völker zu versöhnen.

Nataliia Stets, eine zierliche junge Frau mit ungemein sympathischer Ausstrahlung, spürte in Graupa sowohl wagnerianische Geschichte als auch die Jahreswechsel im Heute: "Ich sehe jeden Tag die Weite dieser Landschaft, dieser Umgebung von Graupa. Das erfüllt mich, bereichert mich und bestärkt mich, hier tätig zu sein." In den Frühling sei sie besonders verliebt: "In dieser Jahreszeit spürt man den Aufbruch, das Neue. Dieses Werden gibt Hoffnung!"

Sechs Monate lang ist sie bei Wagner zu Gast gewesen, beschäftigt hat sie sich in dieser Zeit aber vor allem mit Mozart. Mit Franz Xaver Mozart, dem 1791 (im Sterbejahr seines Vaters) geborenen Sohn des Komponisten. Nataliia will ihre Forschungsarbeit zu Franz Xaver Mozart voranbringen, der viele Jahre in Lemberg verbracht hat, dem heutigen Lviv. Sie hat auch diesen Bezug nicht zuletzt der Dirigentin Oksana Lyniv zu verdanken, die dem "Lemberger Mozart" zu Ehren 2017 das Festival LvivMozArt ins Leben rief und dem "Mozart figlio", wie er zeitlebens unterschrieb, ein virtuelles Museum widmen will.

An dessen inhaltlicher Entwicklung hat Nataliia Stets jetzt intensiv arbeiten können und ist in Graupa unter anderem auch auf Bezüge Franz Xaver Mozarts zu Robert Schumann sowie Carl Maria von Weber gestoßen. Ihr Anspruch sei es, die enge Verbindung des fast vergessenen und im einstigen Lemberg so tragisch (weil in eine verheiratete Frau) verliebten Musikers zu Europas Mitte zu erhellen.

So gern Nataliia Stets sich zum Arbeiten ins Lohengrin-Haus zurückgezogen hat, so gern spazierte sie auch durch die Natur. Von Besuchen in der Semperoper schwärmt sie. Zum monumentalen Wagner-Denkmal im Liebethaler Grund schaffte sie es aber erst wenige Tage vor ihrer Abreise. Denn immer mal wieder zog es die Stipendiatin ans Dirigentenpult. Mal zu Wettbewerben nach Italien, mal zu Dirigaten, die sich mehr oder minder spontan ergeben hatten. Ekkehard Klemm, Chefdirigent der Elbland-Philharmonie, übertrug der Stipendiatin kurzerhand zwei Konzerte mit seinem Orchester, die sie höchst souverän absolvierte. Im Konzerthaus Berlin hat sie Musik ukrainischer Komponisten aufgeführt. Im Pariser Théâtre du Châtelet gab sie ein Konzert, das Odessa gewidmet war. Als sie kürzlich in Duisburg das Jugend-Symphonieorchester der Ukraine ausgerechnet wieder mit Dvoráks 9. Symphonie dirigierte, genau ein Jahr nach dem Konzert in Bologna, kamen ihr die Tränen, weil sie an all die Schrecken des vergangenen Jahres denken musste.

"Die ukrainische Kultur ist ein wesentlicher Teil von Europa!", sagt Nataliia Stets und fühlt sich hingezogen zu ihrer Heimat, die sie - aller Anerkennung im Westen Europas zum Trotz - schmerzlich vermisst. Ende April will sie erstmals wieder nach Kiew fahren und ein Konzert des Nationalen Kiewer Streichorchesters dirigieren. "Ich vermisse das frühere Land Ukraine, wie es bis vor Kurzem noch gewesen ist", begründet sie ihren Schritt. "Wir hatten ein ganz normales Leben, ein kreatives Leben mit Ideen und Plänen, die junge Generation arbeitete für ihre Zukunft." Inzwischen aber könne nur von einem Tag auf den nächsten geplant werden, weil sich Russlands Imperialismus ganz bewusst auch gegen die Kultur der Ukraine wende. Nataliia Stets aber ist überzeugt, dass neue Traditionen geschaffen werden, sie strebe jetzt keine eigene Karriere an, sondern wolle einen Input für den Wiederaufbau ihres Landes geben. "Unsere Identität lässt sich nicht zerstören", gibt sie sich überzeugt.

Eine Kassandra ist sie nicht, vielleicht aber doch eine Art Seherin? Nataliia Stets möchte das europäische Publikum nur zu gern einladen, möglichst bald schon Konzerte in einer friedlichen Ukraine zu besuchen.

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Wolfgang Quellmalz

Die eine ist bereits weltberühmt, die andere auf dem Weg dahin. Die Dirigentin Oksana Lyniv vervollkommnete ihr Studium in Dresden, war Chefin der Oper Graz und Assistentin von Kirill Petrenko in München. Vor sechs Jahren rief sie in ihrer Heimatstadt Lviv, dem ehemaligen Lemberg, das Musikfest LvivMozArt ins Leben. Seit letztem Jahr ist Oksana Lyniv Generalmusikdirektorin des Teatro Comunale di Bologna. Die NMB haben sie bisher unter anderem an der Bayerischen Staatsoper (Bartók »Herzog Blaubarts Burg«) sowie bei den Bayreuther Festspielen (»Der fliegende Holländer«) erlebt.

Im gleichen Jahr wie LvivMozArt gründete Oksana Lyniv das Ukrainische Jugendorchester. Musiker des Orchesters trugen am Sonntag zur musikalischen Gestalt einer Matinée im Jagdschloß Graupa bei, das zu den Richard-Wagner-Stätten gehört. Nataliia Stets, Dirigentin und Komponistin, übernahm die Leitung des Konzertteils incl. eines eigenes Werkes. Die aus der Westukraine stammende Künstlerin hat derzeit im Rahmen eines Stipendiums in Graupa ein zu Hause. Das Stipendium wurde von der Sächsischen Akademie der Künste ins Leben gerufen und durch Spenden der Mitglieder der SAK finanziert. Der Aufenthalt erlaubte Nataliia Stets ein zielgerichtetes Arbeiten, also auch Komponieren, gleichzeitig war Graupa ein Jahr lang Basis für ihre dirigentischen Tätigkeiten. Im Januar leitete sie in diesem Rahmen das zweite Philharmonische Konzert der Elbland Philharmonie Sachsen.

Ihr Stück »Teren« (abgeleitet vom ukrainischen Volkslied »Tswite teren«, deutsch: Der Schlehdorn blüht), eine Komposition für zwei Violinen, wurde von Taras Zdaniuk (Solist des Konzerts) sowie Lena Tautscher aus dem Jugendorchester vorgetragen. In mehreren Teilen zeichnet das Werk zunächst die Weite und Fragilität nach, mit der man ein offenes Land und die darin stehenden Bäume assoziieren kann, gewinnt über ein Wechselpizzicato der beiden Spieler dann an Lebhaftigkeit oder Lebensfreude und greift die Idiomatik des Volksliedes direkt auf.

Außer solchen anregenden Beiträgen der Musik gab es Gespräche (Moderation: Ekkehard Klemm). Nataliia Stets skizzierte kurz ihre aktuelle Situation und die nächsten Schritte nach dem Ablauf die Stipendienzeit – sie ist bereist vielfältig verknüpft und hat Projekte, die betreut, vorangetrieben werden wollen. Die Unterstützung der Ukrainischen Künstler, wie sie es durch das Stipendium erfahren hat, hält sie für wichtig und wesentlich – die Künstler dürfen nicht schweigen, viele arbeiten auf der Flucht.

Für die SAK und ihren Vizepräsidenten Ekkehard Klemm ist es aber auch ein Glück, die Dirigentin Oksana Lyniv kürzlich als Mitglied gewonnen zu haben. Allein, daß sie an einem solchen Termin teilnimmt, dürfte manch anderen Veranstalter neidisch werden lassen. Und Lyniv hat etwas zu sagen. Denn sie spricht nicht nur perfekt deutsch (sowie Italienisch), sie kann nicht nur begeistern, sie ist selbst eine Suchende oder vielmehr Musikwissenschaftlerin. Anders als manche Kolleginnen oder Kollegen (wie Nataliia Stets) hegt sie keine Ambitionen, selbst zu komponieren. Dafür forscht und hinterfragt sie permanent, trägt zusammen und findet neues heraus oder deckt verborgenes wieder auf. (Eigentlich wäre – bliebe dafür Zeit – eine musiktheoretische Abhandlung oder Doktorarbeit die logische Folge).

Dieser Weg des Suchens und Forschens brachte sie bereits nach Dresden. Immer wieder tauchte dabei ein Name auf: Mozart. Denn wie man Mozart spiele, könne sie in der Ukraine nicht lernen, hatte man ihr dort gesagt. Deshalb kam sie an die Dresdner Musikhochschule. Und doch war Lemberg früher eine Mozart-Stadt: der jüngste Sohn Wolfgang Amadés, Franz Xaver Mozart, lebte dreißig Jahre hier. Zwar kam er zunächst befristet, blieb aber schließlich – der Liebe wegen. Er rief hier auch die Tradition der Aufführungen des Mozart-Requiems ins Leben – 1826, lange bevor dies in Wien geschah!

Das Wissen über diese historischen Fakten war in der Ukraine – vorübergehend – vergessen. Oksana Lyniv förderte nicht nur die trockenen Daten zutage, sie rief auch ihr Mozart-Fest ins Leben. Nur wenige Beispiele, keine Einzelfälle, denn zu den anderen Werken des Vormittags wußte die Dirigentin ebenso manches zu erzählen. Maksim Beresowskyj zum Beispiel, war – wie Mozart! – Mitglied der Accademia Filarmonica di Bologna. Zu den Mitgliedern zählten unter anderem Farinelli, Richard Wagner (sic!) und Johann Christian Bach.

Mit Dmytro Bortnjanskyjs Ouvertüre zur Oper »Il Quinto Fabio«, die heute (bisher) nur in wenigen Teilen überliefert ist, sowie der ersten Sinfonie von Maksim Beresowskyj durfte das Ukrainische Jugendorchester in Kammerbesetzung (was der Verve keinen Abbruch tat, sondern diese eher unterstrich) seinen Farbenreichtum bzw. die entdeckenswerte Stücke ukrainischer Komponisten vorweisen. Für einen besonderen Eindruck sorgten die Sechs Lieder Opus 21 von Franz Xaver Mozart. Genaugenommen erwies sich dabei mancher Reim (Ludwig Hölty: »Die Nachtigall | singt überall«) recht schlicht, fast schon schülerhaft, möchte man sagen, die Komposition jedoch war in dem Arrangement für das Orchester nicht nur interessant, gerade das sechste Lied (»Le Baiser« / Der Kuß eines unbekannten Dichters), konnte begeistern. Solistin Anastasiia Povazhna (Sopran) belebte die darin enthaltene Opernhaftigkeit glühend!

Da wäre wohl noch viel nachzutragen gewesen – mit Oksana Lyniv könnte man sicher eine ganze Gesprächsreihe gestalten! Karol Lipiński zum Beispiel, der Komponist der letzten beiden Stücke (zwei Sätze aus seiner Sinfonie Opus 2 Nr. 3), lebte viele Jahre in Dresden, war noch unter Richard Wagner Konzertmeister der Sächsischen Hofkapelle, war aber auch auf Reisen und als Solist tätig (Partner von Niccolò Paganini, spielte die Uraufführung von Hector Berlioz‘ »Harold en Italie«) –Beispiele allein dieser Matinée, die zeigten, welche Kulturverbindungen früher bestanden haben. Diese Kulturverbindungen sollen bleiben, resümierte Oksana Lyniv.

Da wäre eine Fortsetzung des Gespräches, in Graupa oder an der Musikhochschule, wünschenswert. Die Gelegenheit dafür sollte kommen, denn – soviel konnte die Dirigentin schon verraten – in der Spielzeit 2024 / 25 wird sie eine Wiederaufnahme an der Semperoper leiten. Welche genau, durfte sie noch nicht sagen, aber Mozart werde es sein. Die Edition seiner Briefe war übrigens das erste, was Oksana Lyniv auf deutsch gelesen hatte. Na also, da könnte man doch …

https://neuemusikalischeblaetter.com/2023/03/07/kleine-ukrainische-mozartiana/

 

2022

Die Sächsische Akademie der Künste hat sich mit einem Spendenaufruf an ihre Mitglieder gewandt, um geflüchteten Künstlerinnen aus der Ukraine zu Unterkunft und Lebensunterhalt zu verhelfen. In Zusammenarbeit mit der Kultur- und Tourismusgesellschaft Pirna mbH als Träger der Richard-Wagner-Stätten Graupa hat die Akademie eine erste Stipendiatin aus der Ukraine einladen können: Seit Mitte Oktober 2022 ist die ukrainische Dirigentin Nataliia Stets Stipendiatin des Artist-in-Residence Programms der Sächsischen Akademie der Künste und Gast im Lohengrin-Haus der Richard-Wagner-Stätten Graupa. Das Artist-in-Residence-Programm wird von April bis September 2023 mit einer weiteren ukrainischen Musikerin fortgesetzt.

Birgit Grimm

Die ukrainische Dirigentin Nataliia Stets forscht im Lohengrinhaus Graupa zu Franz Xaver Mozart und will im Januar ein Konzert der Elbland Philharmonie leiten.

Auf die Frage, was sie mit dem großen Komponisten Richard Wagner verbinde, antwortete Nataliia Stets schelmisch: „Schon in Kiew habe ich versucht, mich ihm anzunähern, aber das war schwierig. Und nun wohne ich in seinem Appartement.“ Tatsächlich ist die ukrainische Dirigentin für sechs Monate „Artist in Residence“ im Lohengrin-Haus der Richard-Wagner-Stätten in Graupa. Die Stadt Pirna unterhält dort zwei Stipendiatenwohnungen. Und die Sächsische Akademie der Künste (SAK) hatte sich mit Beginn des Ukraine-Krieges mit einem Spendenaufruf an ihre Mitglieder gewandt. Mit dem Geld können nun ukrainische Künstlerinnen und Künstler unterstützt werden. Wie Nataliia Stets zum Beispiel. Die junge Ukrainerin wurde 1990 im Oblast Ternopil in der Westukraine geboren, hat an der Nationalen Tschaikowsky-Musikakademie der Ukraine studiert, war zweite Dirigentin des Kiewer Symphonieorchesters sowie zuletzt Dirigentin und musikalische Assistentin am Theater in Bielefeld.

Stets absolvierte Meisterkurse unter anderem bei ihrer Landsfrau und Kollegin Oksana Lyniv, die wiederum in Dresden studiert hatte. Die beiden erarbeiteten Tschaikowskys „Eugen Onegin“ am Opernhaus in Graz. Und auch, als Lyniv im Sommer 2021 als erste Frau in Bayreuth bei den Richard-Wagner-Festspielen dirigieren durfte, war Stets vor Ort. „Der Fliegende Holländer“ war‘s, und nun schließt sich, wenn man so will, mit „Lohengrin“ der Kreis.

Das einstige Großbauernhaus in Graupa bei Pirna, wo Richard Wagner 1846 während seines Sommeraufenthaltes die Musik für seine Oper „Lohengrin“ skizzierte, bietet Nataliia Stets jetzt ein Domizil. Seit Mitte Oktober ist die junge Dirigentin dort, genießt die Landschaft, musiziert und forscht weiter über das Wirken von Franz Xaver Mozart, dem jüngsten Sohn von Wolfgang Amadeus und Constanze.

Dieser Mozart sei ein Beispiel dafür, dass die Ukraine zu Europa gehöre, sagt die Dirigentin. Franz Xaver wirkte als Pianist und Pädagoge in Lviv, das damals Lemberg hieß. Er kam 1808 als Musiklehrer zu einer Adelsfamilie in die Gegend, ließ sich fünf Jahre später in Lemberg nieder und wirkte dort als Pädagoge und Komponist. Nach einer Konzerttournee durch Europa kehrte er 1822 der Liebe wegen zurück. Franz Xaver, der unter dem Namen „Wolfgang Amadeus Mozart Sohn“ auftrat, war Mitbegründer des Lemberger Musikvereins und organisierte in der Stadt zahlreiche Konzerte. So leitete er eine Aufführung des Requiems seines Vaters aus Anlass von dessen 35. Todestag am 5. Dezember 1826 in der Lemberger St.-Georgs-Kathedrale.

 

Seit 2017 findet im westukrainischen Lviv jährlich das internationale Festival für klassische Musik LvivMozArt, statt. Bei diesem Kunstprojekt kommen die besten Musiker der Ukraine und der Welt zusammen. In diesem Jahr gab es in Kooperation mit der Stiftung Mozarteum Salzburg in Österreich ein Solidaritätsfestival, das „Lviv-Salzburg: Mozart for Solidarity“. Geleitet wurde es von Nataliia Stets.

In ihrer Heimat hat die Musikerin ein Jugendorchester nach dem Vorbild des Bundesjugendorchesters gegründet. Auch in Dresden wird sie mit jungen Musikern arbeiten. Geplant sind Aufführungen und Gesprächskonzerte an der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ und mit den Mitgliedern der Klasse Musik der Sächsischen Akademie der Künste. Ekkehard Klemm, Vizepräsident der SAK und Chefdirigent der Elbland Philharmonie Sachsen, freut sich auf die Zusammenarbeit und ist stolz darauf, „dass die Idee für das Stipendium aus der Mitte der Akademie“ kam. Es sei gar kein Musiker, sondern der Architekt und Denkmalpfleger Thomas Will gewesen, der als Sekretär der Klasse Baukunst die SAK und die Richard-Wagner-Stätten Graupa zusammenbrachte. Die SAK-Mitglieder spendeten so großzügig, dass das Geld auch noch für eine Künstlerin reicht, die nach Nataliia Stets ab Frühjahr 2023 in Graupa wohnen und arbeiten kann.

Auch als Dirigentin wird Nataliia Stets hierzulande zu erleben sein. Beim Sinfoniekonzert der Elbland Philharmonie im Januar will sie als Gast Beethovens 6. Sinfonie und die „Feuersinfonie“ von Haydn dirigieren. Und an der Semperoper teilt sie sich an diesem Donnerstag das Dirigat mit Ekkehard Klemm, der das Konzert des Hochschulsinfonieorchesters mit Solisten der Gesangsklasse und Lehramtsstudierenden im Rahmen des Heinrich-Schütz-Semesters leitet. Johannes Brahms hatte Schütz im 19. Jahrhundert bereits programmatisch in seine Konzerte aufgenommen. Daran anknüpfend wird die 4. Sinfonie von Johannes Brahms im Kontext zu zwei Psalmen Davids erklingen.

Für Nataliia Stets ist das kleine Graupa mit den Richard-Wagner-Stätten „ein wunderbarer historischer Ort“. Sie weiß natürlich auch die Nähe zur Musikstadt Dresden zu schätzen. Und die neue Verbindung, die nun mit diesem Stipendium zwischen Pirna und der Sächsischen Akademie der Künste entstanden ist, möchten beide Seiten gern fortsetzen.

 

 

 

Birgit Grimm

Wohlfühlen statt Provokation: Der Architekt Florian Nagler legt Wert auf Nachhaltigkeit und darauf, dass die Menschen seine Bauten mögen.

Über den großen Baumeister des frühen 19. Jahrhunderts, Karl Friedrich Schinkel, wurde gesagt, dass er seine Ideale auch dann durchsetzen würde, wenn er einen Kuhstall bauen würde. Ob er je einen gebaut hat, ist nicht überliefert. Aber Florian Nagler hat einen entworfen.

Kunterbunte Kuh, was sagst du dazu? Man wird keine Antwort bekommen. Vielleicht geben die Kühe, die in dem 2007 in Thankirchen gebauten Stall wachsen und gedeihen, mehr Milch? Oder das Beef ist besonders zart? Der Kuhstall im bayerischen Voralpenland jedenfalls ist das Lieblingshaus des Münchener Architekten, dessen Büro oft Wohnhäuser baut. Errichtet wurde der Stall mit Tannenholz aus dem Wald des Bauherrn, das im nahen Sägewerk geschnitten und direkt auf der Baustelle montiert wurde. Die dreischiffige Konstruktion ist so gestaltet, dass die meisten Arbeiten auch von ungelernten Helfern und in Eigenleistung ausgeführt werden konnten.

Einfach, schön und nachhaltig – mit diesen drei Worten lässt sich das Credo des Architekten umreißen, der vor wenigen Tagen mit dem Semperpreis 2022 der Sächsischen Akademie der Künste geehrt wurde. Gefeiert wurde das in Dresden in der Robotron-Kantine, deren Erhalt und Nutzung für die zeitgenössische Kunst mehr ist als pure Ostalgie. Nagler meint: „Prinzipiell ist Umbauen und Bestandserhalt in fast allen Fällen sinnvoll. Große Räume mit großen Spannweiten kann man immer gut brauchen. Zudem ist das Gebäude auch ein interessanter Zeitzeuge. Eine Umbaumaßnahme müsste genau das thematisieren und zum Ausdruck bringen, ohne zu sehr zu romantisieren.“

Nagler, der einst ein Sängerknabe war und später den Beruf des Zimmermanns erlernte, ist weder ein Romantiker noch ein Heimattümelnder. Aber ein global player ist er auch nicht. Er baut am liebsten in der und für die Region. Architektur als Statement findet er nicht wichtig. Und provozieren sollen seine Häuser schon mal gar nicht. Innovation ist für den 55-Jährigen kein Selbstzweck. Ein Satteldach? Ja, warum denn nicht!

Wohnhäuser baut er vor allem und die wollen und sollen gefallen. Denen, die drin wohnen, aber auch denen, die dran vorbeigehen. Denn: „Häuser, die gemocht werden, haben die größte Chance, sehr lange stehen zu bleiben“, sagt Nagler. Ästhetik für Nachhaltigkeit – das ist ein so kluges wie unschlagbares Argument. „Am Schluss geht es immer ums Ganze, damit Architektur entsteht“, meint Nagler und versucht, gemeinsam mit seiner Frau Barbara und den etwa zwanzig Mitarbeitern herauszufinden, was die Menschen mögen. Dazu befragt er sie auch, wie sie die Wohnungen, die er entworfen hat, nutzen. „Wir versuchen herauszufinden, warum die Leute ein Haus mögen.“ Dazu müsse man sich mit dem Ort beschäftigen, dürfe nicht alles wegwerfen, müsse möglichst viel wiederverwenden. Und überhaupt: Ein Haus, das außen die Identität des Ortes wahrt, vielleicht auch ein wenig altmodisch wirkt, kann innen sehr modern sein.

Doch allzu viel technischem Schnickschnack steht Nagler skeptisch gegenüber. Man kennt ja die Witze, wo Alexa oder wie die digitale Dienerin genannt wird, den nach einer Zahnoperation nuschelnden Besitzer des Hauses nicht mehr hineinlässt. „Die zunehmende Komplexität im Bauwesen überfordert Planer und Baufirmen, aber vor allem auch die späteren Nutzer. Oft funktionieren hoch technisierte Häuser in der Praxis nicht so, wie in der Theorie vorgesehen“, weiß der Architekt. „Es liegt nahe, zu überlegen, ob es nicht auch einfacher und robuster geht.“

Das tut Professor Nagler sowohl mit seinen Kollegen im Büro als auch mit seinen Studenten an der TU München. Und er denkt nicht nur nach, er baut auch robust und minimalistisch. Für den Künstler Peter Lang entwarf er einen Wohnwagen, mit dem Lang in die entlegensten Gegenden reisen kann. Drin sein sollte nur das Notwendigste zum Leben und Arbeiten. Doch das, was westlichem Anspruchsdenken als Existenzminimum gilt, erwies sich bereits bei Langs erster Reise, die ihn nach Patagonien führte, als Luxus – gemessen an den Lebensverhältnissen der Menschen in den Bergdörfern vor Ort. „Wir im Westen verschleudern einen Großteil der Ressourcen der Welt“, mahnt Nagler und fragt: „Ist der deutsche Standard zu hoch?“

In Bad Aibling hat Nagler drei sogenannte Forschungshäuser hingestellt, die auf den Erkenntnissen der von ihm geleiteten Forschungsgruppe „Einfach Bauen“ an der TU München basieren. Am Anfang stand die Frage, wie ein einfaches Haus aussehen muss, das von sich aus im Winter wenig Energie benötigt und sich im Sommer nicht unnötig aufheizt. Eins der Forschungshäuser ist komplett aus Holz, eins aus Mauerwerk und eins aus Leichtbeton.

Nagler und sein Team haben „das robuste Optimum gesucht, also eine Variante, die gut funktioniert, unabhängig vom Zutun der Nutzer.“ Reduktion der konstruktiven Mittel bedeutet für den Architekten auch eine Rückbesinnung auf konstruktive Elemente, wie tiefe Leibungen oder Vordächer, die sich über Jahrhunderte in der Region bewährt haben und von den Menschen als Bautradition geschätzt werden. „Gerade in dieser Rückbesinnung sehen wir das Potenzial, zu einem zeitgemäßen architektonischen Ausdruck zu gelangen“, sagt Nagler. Ein Widerspruch? Mitnichten! Man müsse die Flächen intelligent planen, meint der Architekt und erzählt, wie er an seinem Elternhaus scheiterte. Das war den Eltern zu groß geworden, nachdem er und seine beiden Geschwister ausgezogen waren. „Dieses Haus ist so dämlich geplant, dass ich es nicht geschafft habe, es umzubauen.“

Sehr überzeugend gelöst hat er den Wiederaufbau der St.-Martha-Kirche in Nürnberg. Das Gotteshaus war 2014 abgebrannt. Die Außenmauern der Kirche wurden wieder aufgebaut, wie sie waren. Aber innen schuf Nagler einen neuen Raum: „Er wird im Zusammenspiel mit der historischen Natursteinkonstruktion durch eine zeitgenössische Holzkonstruktion geformt und geprägt, die über die reine Tragfunktion auch akustische Funktionen übernimmt.“ Dass der Dachstuhl vor dem Brand sechs Jahrhunderte überstand, führt Nagler darauf zurück, dass damals nur einfache, zimmermannsmäßige Konstruktionen aus Vollholz verwendet wurden und kaum Metall zum Einsatz kam. Das hat er übernommen und unverleimte Vollhölzer eingesetzt. Stabilität bekommt die Konstruktion auch durch ihre gitterartige Struktur, ein zeitgenössisches Holzflechtwerk, das Elemente der Gotik und der Ornamentik aufnimmt.

Es könnte eine Alternative sein: „Bauen für die Zukunft sollte man mit den Mitteln von vorgestern“, meint Nagler, „und die Bewohner nicht mit Technik gängeln.“ Dazu braucht es allerdings auch gut ausgebildete und kompetente Handwerker, Männer und Frauen, denen die praktische Arbeit am Herzen liegt.

Werkschau Florian Nagler in der Sächsischen Akademie der Künste bis 27. Januar 2023. Dresden, [Anm.: verlängert bis März 2023]

Palaisplatz 3, Mo – Fr 9 – 17 Uhr, Tel. 0351 8107 6300

 

Wie haben die Architekten Peter Kulka (Dresden) und Volkwin Marg (gmp/Hamburg) die architektonischen und städtebaulichen Entwicklungen in Ost und West der letzten 30 Jahre erlebt? Wie bewerten sie diese Entwicklungen und welche Perspektiven leiten sie daraus für das künftige Bauen, Umbauen oder Rekonstruieren in Deutschland ab? Das Gespräch im Dresdner Kulturpalast war Teil der Diskussionsreihe "Die Künste im deutsch-deutschen Kontext" des Politischen Bildungsforums Sachsen der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Sächsischen Akademie der Künste und wurde moderiert von Joachim Klose, Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. für den Freistaat Sachsen und Jörn Walter, Stadtplaner Hamburg, für die Sächsische Akademie der Künste.

Peter Ufer

Die Architekten Peter Kulka und Volkwin Marg bedauern, wie Städte mit Einkaufszentren verschandelt wurden. Jetzt müsse Wert auf den sozialen Wohnungsbau gelegt werden.

Wenn Peter Kulka in Wallung gerät, wird es still im Saal. Der Architekt beklagt, dass der Postplatz danebengegangen sei, dass das neue Verwaltungszentrum, das am Ferdinandplatz gebaut wird, eine Katastrophe werde, dass Investoren die Restbaulücken zuglotzen würden, den Stadträten die Bildung fehle, um wirklich fachgerecht über Architektur entscheiden zu können, und die neue Lingnerstadt nichts mehr mit seinem eigentlichen Entwurf zu tun habe.

„In Dresden fehlt mir Dresden“, sagt der 84-Jährige, am 20. Juli 1937 in Dresden geboren, der den Sächsischen Landtag und die Centrum-Galerie plante und dem kleinen Hof des Residenzschlosses eine Kuppel aus transparenten Folienkissen aufsetzte. Allein am Neumarkt samt Schloss beispielsweise habe Dresden es geschafft, eine wunderbare Symbiose aus Altem und Neuem zu schaffen. Sein emotionaler Auftritt am vergangenen Montagabend im Kulturpalast bleibt nicht ohne Widerspruch. Denn nicht Kulka allein antwortet auf Fragen zu Perspektiven der Architektur in der Stadt, sondern zu der Veranstaltung der Sächsischen Akademie der Künste ist auch Volkwin Marg eingeladen.

Der 85-jährige Architekt, am 15. Oktober 1936 in Königsberg geboren, entgegnet Kulka, Larmoyanz sei ein pathologisches Verhalten. „Wir leben doch hier wie ein Fettauge auf der Bouillon und nehmen es nicht wahr“, sagt der Mann, der mit seinem Partner Meinhard von Gerkan in Dresden für den Umbau und die Sanierung des Kulturplastes und das Geschäftshaus am Altmarkt, das der Volksmund Legohaus nennt, verantwortlich zeichnet. Beide altehrwürdigen und nach wie vor vitalen Männer sollten zum Jubiläum des fünfjährigen Umbaus des Kulturpalastes ihre Ansichten auf den Städtebau der vergangenen 30 Jahre reflektieren und daraus Ideen für die Zukunft entwickeln. Joachim Klose, Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung, und Jörn Walter, Stadtplaner in Hamburg und von 1991 bis 1999 Leiter des Stadtplanungsamtes in Dresden, mühten sich redlich, die Herren zu dem weit gefassten Thema zu befragen.

Rückschauend merkte Marg an, durch die Armut der DDR habe viel mehr Denkmalpflege stattgefunden als beim schnellen Wiederaufbau in der Bundesrepublik. Wer heute von Dresden aus in die Lausitz fahre, sehe einen Landstrich voller großartig sanierter historischer Gebäude, eine Art Elysium. Diese Rekonstruktion alter Substanz sei eine Leistung der vergangenen 30 Jahre, aber jetzt vorbei. Außerdem gebe es eine Rückinszenierung der Städte mit modernen Mitteln, die ebenfalls überzeuge.

Gleichwohl habe es nach 1990 eine unverantwortliche Landnahme gegeben, eine Explosion von Einkaufszentren, vulgäre Einrichtungen ohne Rücksicht auf städtebauliche Stile. Peter Kulka meint, er schäme sich dafür, was teilweise aus dem Westen gekommen sei und die Oststädte verschandelt habe. Und dann kam er wieder auf sein Kernthema zu sprechen: „Es fehlt in den Stadtverwaltungen, in den Stadträten, aber auch in der Ausbildung der Architekten an Bildung.“

Das Publikum interessierte sich vor allem für die Perspektiven, und die beschrieb Marg kurz so: Dresden habe durch den Verkauf seiner kommunalen Wohnungen den sozialen Wohnungsbau aufs Spiel gesetzt, aber der werde immer wichtiger.

Die Architektur der Zukunft, so Marg, werde deutlich sparsamer, einfacher sein müssen. Die Flächen, die noch zur Verfügung stünden, würden eine weitsichtige Stadtplanung erfordern, die er in Dresden vermisse. Da sei auch das Land Sachsen als Großgrundbesitzer in der Pflicht. Kulka ergänzte: „Wir bauen nicht für den Denkmalschutz, sondern für das Leben.“

 

Wie wurde Kunst aus der DDR im Westen wahrgenommen und umgekehrt? Wie ist es heute? Ist der sogenannte Bilderstreit beendet? Kann wahre Kunst nur in Freiheit entstehen, braucht sie einen gesellschaftlichen Auftrag oder den Widerspruch? In der Diskussionsreihe "Die Künste im deutsch-deutschen Kontext" des Politischen Bildungsforums Sachsen der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Sächsischen Akademie der Künstediskutierten darüber Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und der Dichter Durs Grünbein. Es moderierten Joachim Klose, Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. für den Freistaat Sachsen, und Wolfgang Holler, Präsident der Sächsischen Akademie der Künste.

Stefan Locke

Durs Grünbein und Marion Ackermann diskutieren über die mangelnde Wertschätzung von DDR-Kunst

Die Veranstaltung lief schon eine Dreiviertelstunde, als Durs Grünbein eine der entscheidenden Fragen stellte: "Gibt es eigentlich noch eine stille Exklusion der Ostkunst?" Mit diesem Vorwurf hatte vor fünf Jahren das begonnen, was als "Dresdner Bilderstreit" in die Geschichte einging: Der Vorwurf, die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden versteckten all ihre in der DDR entstandenen Exponate verschämt im Depot, wirkte seinerzeit wie Öl im Feuer. Im nach Pegida ohnehin debattengetränkten Dresden flammte damals auch noch diese überfällige Diskussion über den Stellenwert der und des Ostdeutschen im wiedervereinigten Deutschland auf, womit der Bilderstreit eine Art Stellvertreterdiskussion für tatsächliche und vermeintliche Verletzungen durch die Wiedervereinigung wurde.

Der Stand der Dinge sollte dann vor zwei Jahren zum dreißigsten Einheitsjubiläum begutachtet werden, allerdings senkte Corona den öffentlichen Austausch auf null. Am Freitagabend nun versuchten sich die aus Göttingen stammende Direktorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Marion Ackermann, und der in Dresden geborene Schriftsteller Durs Grünbein an einem Resümee. Das ging nicht, ohne noch einmal die gröbsten Bosheiten im Umgang mit Kunst aus der DDR zu zitieren, von der Weimarer Ausstellung 1999, als ostdeutsche Werke wie "Entartete Kunst" auf Mülltüten präsentiert worden waren, bis hin zu Kunstausstellungen zu sechzig und siebzig Jahren Bundesrepublik, in denen ostdeutsche Protagonisten schlichtweg nicht vorkamen.

Das Problem dabei sei, dass es in der öffentlichen Debatte immer nur um Staatskunst gehe, sagte Grünbein. Dabei sei die Kulturlandschaft der DDR vielfältiger gewesen. "Insbesondere in den letzten zehn Jahren gab es auch ganz andere Kunst, die von Aufbruch zeugte, was etwas ganz Neues, natürlich nicht Offizielles war, aber das spielte in den Debatten nie eine Rolle." Ackermann, die bereits öffentlich eingestanden hatte, "vieles nicht gewusst" zu haben, bevor sie 2016 nach Dresden kam, verwies auf die Hybris, mit der lange diskutiert worden sei, dass etwa "richtige" Kunst nur in Freiheit und Demokratie entstehen könne: "Neunzig Prozent der Kunst, die wir bewahren, sind in nichtdemokratischen Systemen entstanden", was wohl für die meisten deutschen Museen gelten dürfte. "Man braucht kein demokratisches System, damit große Kunst entsteht."

Das freilich heißt nicht, auch noch auf die Umstände stolz zu sein, sondern vielmehr auf die Kunst, die unter diesen Umständen entstand, was wiederum im Osten bisweilen verwechselt wurde. Kunst aus der DDR unvoreingenommen zu betrachten ist hingegen ein Fortschritt, der aus dem Bilderstreit entstand. Nicht nur sind in Dresden manche der schmerzlich vermissten Werke wieder öffentlich zu sehen, auch Sonderausstellungen wie jüngst über "Deutsches Design - zwei Länder, eine Geschichte" waren auf Augenhöhe kuratiert.

Warum es bis zu diesem Wandel dreißig Jahre dauerte, wurde im Publikumsgespräch abermals deutlich. In DDR-Kunsthochschulen sei immer auch nach Westen geblickt worden, erzählten Künstler aus dem Osten, während Künstler aus dem Westen bestätigten, dass das umgekehrt kaum der Fall gewesen sei. Nach dem Mauerfall steigerte sich die Ignoranz bis ins Abfällige: Galeristen, die in den Neunzigerjahren ostdeutsche Künstler vertraten, wurde auf der Art Cologne und der Art Basel angedroht, ihren Stand zu verlieren, sollten sie weiter mit Werken aus dem Osten auftauchen.

Was die von Grünbein anfangs gestellte Frage nach der Exklusion von Ostkunst im Deutschland von heute anbelangt, ist der Befund auch im zweiunddreißigsten Jahr nach der Einheit durchwachsen. In der Musik etwa sei "die Exklusion nach wie vor absolut", sagte der Dresdner Dirigent und Komponist Ekkehard Klemm. Er erlebe "mit großer Befremdung", wie wenig im Osten entstandene Werke im Westen wahrgenommen würden. Zugleich erzählte er unter Beifall, wie er früher in DDR-Kunstausstellungen gegangen sei, um Künstler zu suchen, die widerständig waren, und welche "diebische Freude" es gewesen sei, diese zu entdecken. Dem pflichtete Grünbein bei, gab allerdings zu bedenken, dass es damals eben auch eine Exklusion gab, nämlich politisch partout nicht gewollter Künstler. Ein Satz, der deutlich machte, wie dringend es neben dem Gespräch zwischen Ost und West vor allem auch einer Verständigung der Ostdeutschen untereinander bedarf.                 

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Paul Kaiser

Wer hätte vor fünf Jahren gedacht, dass der sperrige Titel („Bilderstreit mit Blickkontakt“), mit dem die Staatlichen Kunstsammlungen (SKD) seinerzeit, mitten im heftig ausbrechenden Dresdner Bilderstreit, ihre unter hohem Rechtfertigungsdruck anberaumte Diskussionsreihe überschrieben hatten, noch einmal derart an Aktualität gewinnen würde. Am Freitag, im Lichthof des Albertinums, fielen nun aber tatsächlich die Masken; zumindest die stofflichen, dank des Auslaufens der Schutzpflichtregelungen. Der Anlass war ein von der Konrad-Adenauer-Stiftung im Freistaat Sachsen zusammen mit der Sächsischen Akademie der Künste organisiertes Podiumsgespräch. Deren Chefs, Joachim Klose und Wolfgang Holler, übernahmen die Moderation und hatten sich als Gäste die Generaldirektorin der SKD, Marion Ackermann, sowie den Lyriker und Essayisten Durs Grünbein eingeladen. Und gleich vorab – es sollte ein lohnender Abend werden. Mit dem Abstand einer überwundenen Großquarantäne versuchte das Podium in produktiver Sachlichkeit die Sondierung einer Situation, deren Problemlagen, wie die Diskussion bewies, sich in der Corona-Krise längst nicht aufgelöst hatten. Dies war ein Befund, der keineswegs zu erwarten war – angesichts anderer Prioritäten, die vom Schrecken des Kriegs in der Ukraine bis hin zur bedrohlichen Erosion gesellschaftlicher Konsenshaltungen auch im Kulturmilieu hierzulande reichen.

Das Publikum zeigte sich jedenfalls interessiert und erschien mit zirka 200 Besuchern in großer Zahl. Es wurde Zeuge einer erneuten Annäherung an die in den letzten Jahren vehement gestellten Themen des Bilderstreits. Bei dem war es vor allem um den musealen Umgang mit ostdeutscher Kunst (und ihren Künstlerinnen und Künstlern) gegangen sowie um die grundlegende Position der „Ostkunst“ im gesamtdeutschen, aber westdeutsch dominierten Verhältnis der Künste. Nach spröde-didaktischem Beginn, geschuldet den eher in olympische Gefilde zirkelnden Fragen nach dem philosophischen Grundverhältnis zwischen Wort und Bild, fand das Podium glücklicherweise schnell zum Eigentlichen. Wer glaube denn ernsthaft, fragte Durs Grünbein mit Lust an intellektueller Reibung in die Runde, ob heute noch immer von einer „stillen Exklusion“ der Kunst aus der DDR die Rede sein könne? Die Antwort von Marion Ackermann überraschte, weil sich die Generaldirektorin nicht routiniert im abwiegelnden Vokabular äußerte, sondern vielmehr unverstellt, authentisch, ihre persönliche Sicht auf museale Lernprozesse der letzten Dekade erklärte. Gegenüber der starren Asymmetrie zwischen West und Ost, die lange Zeit in Köpfen und Institutionen vorherrschend gewesen sei, so Ackermann, gehe es heute darum, in flexiblen, divers besetzten „Fokusgruppen“, die Rangfolgen des Kanons in Frage zu stellen. Dafür sei nun aber nicht mehr der Blick von oben auf die Phänomene entscheidend, vielmehr jener, der aus der Synthese gut recherchierter „Einzelfälle“ die Singularität künstlerischer Positionen erkennbar mache.

Das Problem bei der Wiederaufnahme eines auf lange Zeit unterbrochenen Gesprächs besteht darin, dass man in Vielem noch mal ganz von vorne beginnen muss. Diese allgemeine Lebenserfahrung gelte vor allem im „hysterischen Raum der Kunst“, der, wie Durs Grünbein bemerkte, durch erbitterte Konkurrenzen und ein auftrumpfendes Distinktionsgebaren geprägt sei. Auf dem Podium zeigten sich die Redundanzen bei einigen durch die Moderatoren aufgeworfenen Fragen, welche in den letzten Jahren durch Debatten, Ausstellungen und Publikationen hinlänglich beantwortet schienen. Etwa in der Art: Wie denn nun die Kunst im Osten zu bezeichnen sei – ob als „DDR-Kunst“ oder lieber als „Kunst aus der DDR“ – oder ob es überhaupt Kunst in autoritären Staaten geben könne? Diese „Klassiker“ einer Ausflucht ins Grundsätzliche strapazieren heute nur noch die Geduld. Sie suggerieren zudem der Institution Museum in fataler Fehlwahrnehmung, dass nun, 31 Jahre nach der Wiedervereinigung, überhaupt einmal begonnen werden könne, die ostdeutschen Bilder ins passende Format zu setzen.

Marion Ackermann nahm diesen Aspekt der Diskussion als Stichwort für eine Anekdote. Diese handelt davon, dass sich die meisten Besucher der 2018 von ihrem Haus ausgerichteten Ausstellung zur ostdeutschen Kunst, wie in tiefsten DDR-Zeiten, an Walter Womackas „Paar am Strand“ oder Harald Hakenbecks „Peter im Tierpark“ ergötzten. Ihre von den Befunden einer Publikumsbefragung abgeleitete These, dass es sich dabei um die identitäre Suche nach Formen einer haltbaren „Heimat“ im Strom der radikalen gesellschaftlichen Umbrüche handelt, mag für einen Teil des Publikums gelten, nicht aber für das elaborierte Dresdner Kulturbürgertum. Diesem ging es im Diskurs um die Bilder, wie der Maler Hubertus Giebe einwandte, ja keineswegs um die nostalgische Restauration des Sozialistischen Realismus. Stattdessen steht bis heute die im musealen Raum anhaltende „Unsichtbarkeit“ einer vielfach in Dresden wurzelnden, herausragenden künstlerischen Qualität ostdeutscher Kunst in Kritik, deren Positionen, um nur einige Namen zu nennen, von Bernhard Kretzschmar, Theodor Rosenhauer und Hans Jüchser bis hin zu Horst Leifer, Stefan Plenkers oder Eberhard Göschel reichen. Darum ging es und darum geht es. Mit dem ideologisch verklärten Liebreiz des in sein kobaltblaues Mäntelchen eingehülltes „Peterchen“, wie die SKD-Chefin die in ihrer Sammlung befindliche, 1960 entstandene DDR-Ikone spöttisch bezeichnete, hat die Arena dieser Namen nun aber reinweg gar nichts zu tun.

 

Birgit Grimm

Der Dichter Durs Grünbein stammt aus Dresden und ist im Denken und Schreiben ein Weltbürger. Nun äußert er sich auch im Bilderstreit.

Ob er noch ein Gedicht schreibe, fragt Marion Ackermann, während Durs Grünbein sich Notizen macht. Der steckt den Stift schnell weg, denn die Mikrofone sind bereits eingeschaltet. Die Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) und der Dichter sitzen am Freitagabend auf einem Podium, zu dem die Sächsische Akademie der Künste (SAK) und die Konrad-Adenauer-Stiftung eingeladen haben. Das Interesse ist groß, obwohl das Motto des Abends nicht einmal als rhetorische Frage taugt: „Kein Land für Bilder?“. Das Publikum, das sich in großer Zahl im Lichthof des Albertinums eingefunden hat, weiß natürlich, worum es gehen wird: um den deutsch-deutschen Bilderstreit, der in den 1990er-Jahren mit unverschämten Äußerungen des Malers Georg Baselitz und mit unsäglichen Ausstellungen in Weimar und Berlin seinen Anfang nahm, sich zur Stellvertreterdebatte für all das entwickelte, was die Menschen, die viele Jahre ihres Lebens in der DDR verbracht hatten, an Demütigungen seit der Wiedervereinigung hinnehmen mussten und der schließlich im Dresdner Bilderstreit um die Präsenz hiesiger Künstler im Dresdner Albertinum gipfelte.

Diesen Bilderstreit – das war die Überraschung des Abends – hält der Kultursoziologe Karl-Siegbert Rehberg, der sich intensiv mit der Kunst in und aus der DDR befasste, für beendet. Der 78-Jährige schreibt an einer Publikation, in der er den Bilderstreit dokumentiert und analysiert.

Auf dem Podium und im Publikum bekommt Rehberg Widerspruch. Man ist sich einig: Es gibt noch viel zu lernen, viel zu entdecken, viel zu tun! Zumal es unklar ist, wie sich die Situation entwickelt nach den zwei Jahren der Pandemie, in der große öffentliche Diskussionsrunden vor Publikum nicht möglich waren, und angesichts des Krieges in der Ukraine, der alles verändert, auch in Deutschland.

Marion Ackermann kam Ende 2016 aus Düsseldorf nach Dresden. Die Debatten, die damals hier in Dresden um die Kunst geführt wurden, haben sie positiv überrascht: „Die Debattenkultur hier ist ganz anders als im Westen. Alle reden mit in einer Direktheit, die ich nicht gewöhnt war“. Was sie erschreckt, ist die Aggressivität, mit der manche ihre Position behaupten.

Auf der Suche nach den Ursachen für den Bilderstreit kommt das Podium auf die Kunstgeschichte, die in der DDR und der BRD unterschiedlich betrachtet wurde. An den kunsthistorischen Instituten in der BRD wurde und wird DDR-Kunst nicht umfassend betrachtet, nicht gelehrt. Außerdem: „Figuren wie Ikarus spielten verschiedene Rollen in der Kunst. Auch auf Picasso gab es völlig unterschiedliche Sichten“, sagt Wolfgang Holler. Der Präsident der SAK ist neben Joachim Klose, dem sächsischen Landesbeauftragten der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., an diesem Abend nicht nur Moderator. Der frühere Direktor des Dresdner Kupferstich-Kabinetts und Generaldirektor in Weimar, der 1991 aus dem Westen in den Osten kam, steckt tief drin in der Problematik. Er plädiert für den mikroskopischen Blick auf die Kunst und die Lebensgeschichten von Künstlerinnen und Künstlern. Wer ging warum in den Westen? Wer blieb warum hier? Wer kam wann zurück? Welche Bedeutung hat das für die Kunst? Das zu erfragen und zu erforschen, erfordert Zeit. Es hätte längst in Angriff genommen werden können.

Den Weg vom Osten in den Westen ging Durs Grünbein, der Dichter, der sich scherzhaft einen „Ost-West-Bastard“ nennt, der sich seit frühester Jugend wohlfühlt bei den Bildern und unter Künstlern. „Das ist nicht so langweilig wie in Literatenkreisen“, sagt der 59-Jährige. Grünbein baut Brücken zwischen Kunst und Wort. In der Debatte der 90er-Jahre habe er die Untergrundkunst vermisst, sagt er. Gestritten wurde damals in der Tat um die offizielle Staatskunst der DDR, die freilich im Westen besser bekannt war als jene Kunst, die sich nicht dem Diktat des sozialistischen Realismus beugte und trotzdem entstand. Der Kulturwissenschaftler Paul Kaiser nennt das „die Landschaft der Mitte“. Künstler wie Carlfriedrich Claus, Ruth Wolf-Rehfeldt oder Max Uhlig, um nur drei zu nennen, gehören unbedingt in den gesamtdeutschen Diskurs. Kaiser meint, nun sei es an der Zeit, den Kanon der Museen zu diskutieren.

Aber Gerechtigkeit wird es in der Kunst nicht geben. Der Maler Hubertus Giebe meint sogar: „Demokratie hat in Kunst und Wissenschaft nichts zu suchen.“ Die SKD haben in den vergangenen Jahren zielgerichtet Kunst aus Ostdeutschland angekauft. Gehen diese Werke nun automatisch in den gesamtdeutschen Kanon ein? Und was oder wer definiert diesen Kanon?

Durs Grünbein war überrascht, als er am Donnerstagabend bei einer Veranstaltung in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden erfuhr, dass die SLUB bereits in den 1980er-Jahren Künstlerbücher gekauft hat. Er hätte diese Sammlung eher bei der Stasi vermutet, die sich allerdings erst dafür interessierte, als die Kunstwerke schon Teil der Bibliothek waren. Der damalige Direktor Burghard Burgemeister hat mit Mut und Weitblick so auch Künstlerförderung betrieben.

Zurzeit kann man diese Sammlung in der Corty Galerie der SLUB in Augenschein nehmen. Anlass sind 30 Jahre „Common Sense“. „Der gemeinsame Nenner“ ist ein Künstlerbuch-Almanach, dessen erster Band Ende 1989 erschien. Zwei Jahre Arbeit waren vorausgegangen: Der Schriftsteller Jörg Kowalski und der Künstler Ulrich Tarlatt hatten 1987 in Halle den Verlag Edition Augenweide gegründet, mit dem sie künstlerischen und literarischen Experimenten in die Öffentlichkeit verhalfen. 500 Künstlerinnen und Künstler arbeiteten im Laufe der Jahre an der Edition mit, die vollständig in der SLUB vorliegt.

Wer in der DDR an Künstlerbüchern mitarbeitete, der wollte nicht die Regierung stürzen. Es ging ums Machen, einfach nur ums Machen. Selbstbestimmt wollten die Künstler entscheiden, was sie veröffentlichen, nicht mehr warten auf Druckgenehmigungen und Papierfreigaben. Dabei nutzten sie clever ein Schlupfloch in der Gesetzgebung: Künstlerische Grafik durfte man bis zu einer 99er-Auflage ohne Genehmigung drucken. Die Texte wurden von Hand geschrieben oder auf der Schreibmaschine mit zig Durchschlägen getippt. Grafiker, Fotografinnen, Autoren eroberten sich auf diese Weise „ein freies, wildes Gelände“, wie es Grünbein nennt. „Künstlerbücher wurden zusammengebaut aus dem, was jeder beitrug. Es gab keine redaktionelle Idee.“ So finden sich Grünbeins Anfänge als Dichter zum Beispiel in „Ghetto-Hochzeit“, einem Künstlerbuch, das er mit Via Lewandowsky schuf, dem Künstler, mit dem ihn „die älteste und festeste Freundschaft“ verbindet. In der SLUB las Grünbein auch aus dem originalen Künstlerbuch „Zwinger“, das als erste Szene-Anthologie in der DDR gilt.

Die Ausstellung „Common Sense“ in der Corty Galerie der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden, Zellescher Weg 18, ist bis zum 3. Juli zu sehen, geöffnet Mo – Fr von 10 – 18 Uhr.

 

Wie reagieren die Künste und Wissenschaften auf den Krieg in der Ukraine? Auf einem von der Sächsischen Akademie der Künste einberufenen Podium suchten Künstler und Forscher in Sachsennach Antworten. Es diskutierten Jörg Bochow, Vizepräsident der Sächsischen Akademie der Künste und Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden, Holk Freytag, ehem. Präsident der Sächsischen Akademie der Künste und Mitglied der Europäischen Allianz der Akademien, Nele Hertling, Direktorin der Sektion Darstellende Kunst der Akademie der Künste Berlin und Mitglied der Europäischen Allianz der Akademien, Carena Schlewitt, Intendantin HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste und Prof. Dr. rer. pol. habil. Hans Wiesmeth, Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Die Moderation hatte Michael Bartsch, freier Journalist Dresden.

Marcel Pochanke

Der Kulturbetrieb werde nicht mehr der sein, der er war. Der Konflikt in Europa und die Frage nach dem Umgang mit der russischen Aggression werde in alle Formen der Kunst eindringen, ist sich Jörg Bochow sicher. Der Chefdramaturg des Staatsschauspiels Dresden ist zugleich Vizepräsident der Sächsischen Akademie der Künste. Auf deren Einladung wurde am Donnerstag auf einem Podium im Stadtmuseum die Frage gestellt, welche Folgen der Krieg für die Kultur und Wissenschaft haben werde. Für die Wissenschaft sprach der Ökonomieprofessor Hans Wiesmeth, der lange an einer Moskauer Universität gearbeitet hatte und Russland nach Kriegsbeginn verließ. Er berichtet von den erschwerenden Regelungen, die nach und nach für Ausländer galten und sich zur Schikane aufwuchsen. Jetzt ist die Kommunikation mit den früheren Kollegen auf ein Minimum reduziert, nicht zuletzt, um sie nicht in Gefahr zu bringen: „Der E-Mail-Verkehr soll zunehmend überwacht werden.“

Dabei sind sich die Diskutanten einig, dass es aktuell eine der wichtigsten Aufgaben sei, in Kontakt zu bleiben. Das und jede auch noch so klein erscheinende Hilfe hier vor Ort, durch Lebensraum, Zuspruch und – ganz wichtig – Arbeits- und Auftrittsmöglichkeiten, sei vor allem, was man tun kann. Auch, um dem eigenen Schrecken entgegenzuwirken. Tag für Tag versuche sie, „ein Verhältnis zu der neuen Situation“ zu entwickeln, erläutert Carena Schlewitt, die Leiterin des Europäischen Zentrums der Künste Hellerau. Wut sei es nicht, damit komme man nicht weiter, sagt etwa der ehemalige Intendant des Dresdner Staatsschauspiels, Holk Freytag. Aber Fassungslosigkeit sei da auch, dass „wir in unserer rational gefassten Welt auf das nicht vorbereitet waren“. Aus dieser Fassungslosigkeit heraus wird Freytag so konkret wie kein anderer derer, die an diesem Abend um Positionen und Antworten suchen: Er habe noch in den 50er-Jahren unglaubliche Impulse von Kunst und Kultur auf den Verlauf des Kalten Krieges erlebt. Jetzt gelte es wieder. So zeichnet er die Vision einer „Neuordnung der Leipziger Buchmesse“ hin zu einem „großartigen Forum“ gerade in Richtung Osteuropa.

In der Gegenwart geht es auch darum, den Schaden nicht größer zu machen. Ein pauschaler Boykott russischer Kultur oder russischer Künstler findet vom Podium große Ablehnung. Nele Hertling von der Berliner Akademie der Künste berichtet von gezielten Bemühungen, russische Kunst in der Stadt zu präsentieren, um „dieser verrückten Idee, eine Tschaikowski-Oper abzusetzen, weil Tschaikowski vielleicht irgendwo Mütterchen Russland preist, entgegenzuwirken.“ „Stellen Sie sich vor, in der Zeit des Nationalsozialismus wäre in der ganzen Welt keine deutsche Kultur mehr aufgeführt worden“, nimmt Holk Freytag den Gedanken auf. Er sieht für die Kultur eine entscheidende Aufgabe für die Zeit nach dem Krieg.

 

Wie kann Künstlern und Wissenschaftlern angesichts der Krieges in der Ukraine geholfen werden - im Lande, auf der Flucht, im Exil? Unter welchen Bedingungen können Arbeitsbeziehungen mit kritischen Künstlern und Wissenschaftlern in Russland und Belorussland aufrechterhalten und neu geknüpft werden? Wieviele Sanktionen im Kulturbereich gegenüber Russland sind nötig? Jörg Bochow, Vizepräsident der Sächsischen Akademie der Künste und Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden, Holk Freytag, ehem. Präsident der Sächsischen Akademie der Künste und Mitglied der Europäischen Allianz der Akademien, Nele Hertling, Direktorin der Sektion Darstellende Kunst der Akademie der Künste Berlin und Mitglied der Europäischen Allianz der Akademien, Carena Schlewitt, Intendantin HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste und Prof. Dr. rer. pol. habil. Hans Wiesmeth, Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig suchten auf einem von der Sächsischen Akademie der Künste einberufenen Podium nach wirksamen Antworten auf den Krieg in der Ukraine.

Tomas Gärtner

Fassungslos dazustehen ist die neue Ehrlichkeit. Fünf Vertreterinnen und Vertreter aus Künsten und Wissenschaft suchten am Donnerstag Abend bei einem Podium der Sächsischen Akademie der Künste im Dresdner Stadtmuseum nach einem Ausweg aus der Ratlosigkeit, in die sie wie alle angesichts des Ukraine-Krieges gestürzt sind.

Eine Mischung aus Wut und lähmender Hoffnungslosigkeit, so beschrieb Nele Hertling ihre seelisch-geistige Verfassung dem Moderator Michael Bartsch. Die Theaterdirektorin und Vizepräsidentin der Berliner Akademie der Künste brachte damit auf den Punkt, was die anderen ähnlich formulierten. Wenn jene, bei denen man bislang auf Ratschläge gefasst war, eingestehen, nicht weiter zu wissen, begreift man auf andere Art den Ernst der Lage.

Ruinen hinterlässt dieser Krieg auch in den Beziehungen zu Institutionen. Hans Wiesmeth, Professor für Wirtschaftswissenschaft, Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, hat fast sieben Jahre lang die Wirtschaftswissenschaften an Hochschulen in Russland auf internationales Niveau zu bringen versucht. „Was wir in fünf, sechs Jahren erarbeitet haben, ist in zwei Tagen Krieg kaputtgegangen“, konstatierte er entmutigt.

Seit 2014 haben russische Behörden alles dafür getan, es westlichen Ausländern wie ihm so schwer wie möglich zu machen, mit Aids-Tests, Gehaltsabzug, offener Überwachung. Röntgen und Bluttest auf eigene Kosten alle Vierteljahre war die letzte Stufe gezielter Schikanen. „Jetzt dürfen russische Wissenschaftler nicht mehr an Konferenzen im Ausland teilnehmen und nichts außerhalb veröffentlichen“, berichtete er.

In der Woche vor Kriegsbeginn vereinbarte Jörg Bochow, Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden und Akademie-Vizepräsident, zusammen mit Leipziger Darstellern eine gemeinsame Produktion mit dem Studio des Moskauer Wachtangow-Theaters: Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee“. Um Kriegserfahrungen junger Menschen von heute sollte es gehen. „Das wird es nie wieder so geben wie vorher.“ Carena Schlewitt, Intendantin des Europäischen Zentrums der Künste Hellerau, wollte eine Kooperation mit Künstlern aus Polen und der Ukraine starten. Alles passé.

Den totalen Abbruch der Kontakte bezeichneten fast alle in der Runde als größtes Problem. Professor Wiesmeth traut sich nicht, seine russischen Partner anzuschreiben, weil E-Mails kontrolliert werden. So fehlen Informationen. „Ich habe kein vollständiges Bild mehr.“ Deshalb empfahl Nele Hertling, jeder möge seine Verbindungen nutzen, um wenigstens etwas zu erfahren. Mehr als kleine individuelle Lösungen seien derzeit nicht realistisch.

Das Montagscafé im Kleinen Haus des Staatsschauspiels, ursprünglich als interkultureller Treffpunkt geschaffen, sei zum „Empfangscafé“ für ukrainische Flüchtlinge geworden, berichtete Jörg Bochow.

„Was wir konkret machen können: Aus der Ukraine geflüchteten Künstlern helfen“, sagte Regisseur Holk Freytag, Sekretär der Akademie-Klasse Darstellende Kunst und Film. Die Akademie-Klasse Baukunst erbitte derzeit bei ihren Mitgliedern Spenden, um jemanden hier unterbringen zu können. „Und wir können Berichte sammeln darüber, was im Kriegsgebiet passiert.“

Theater hierzulande sollten Darstellern Auftrittsmöglichkeiten schaffen, betonte Jörg Bochow. „Das ist im Exil das Entscheidende.“ Ähnliches sollten sächsische Universitäten für Wissenschaftler aus der Ukraine prüfen, die gerade hier seien, empfahl Hans Wiesmeth.

Und nicht die russischen Künstler vergessen, mahnte Jörg Bochow. Auch, wenn das im Moment zu einem Kunststück werde: Brücken zu bauen, Künstler in Russland zu unterstützen und sich gleichzeitig vom Krieg zu distanzieren. Zudem mahnte er, nicht um jeden Preis öffentliche Bekenntnisse gegen den Krieg zu verlangen von Künstlern, die damit ihre Familienangehörigen gefährden. „Da sollten wir zurückhaltend sein und nicht mehr einfordern, als wir uns selbst zumuten würden.“

Es brauche Programme, sagte Carena Schlewitt, damit geflüchtete Künstler in der Szene hierzulande Fuß fassen können. „Wir müssen langen Atem haben.“ Kontinuität sei gefragt, über die schnelle Hilfe derzeit hinaus. „Wir werden uns wohl auf viele Jahre einstellen müssen“, befürchtet auch Jörg Bochow. Und wenn noch mehr Flüchtlinge aus der Ukraine auf die Stadtgesellschaft treffen, könnten Konflikte entstehen. „Die müssen wir moderieren.“

Die Leipziger Buchmesse, warf Holk Freytag ein, „könnte künftig Seismograf für mittelosteuropäische Entwicklungen werden“. „Das ist doch ein großartiges Forum.“

Prognosen wagen mochte niemand in der Runde. In wirklichen Krisen hebt man den Blick kaum über die eigenen Schuhspitzen hinaus. In Berlin träfen täglich Tausende Flüchtlinge ein, berichtete Nele Hertling. Die Stadt komme an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Doch Kunst- und Kultureinrichtungen vernetzten sich mit ihren Hilfsangeboten, neue Kontakte zu Menschen aus der Ukraine entstünden. „Wie viele bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, stimmt mich optimistisch.“

 

Mit der Öffnung der Kulturinstitutionen öffnete am 15. Januar 2022 auch das Europäische Zentrum der Künste Hellerau seine Türen für eine Podiumsdiskussion in Zusammenarbeit mit der Sächsischen Akademie der Künste und dem Tanzarchiv Leipzig e.V.  In Moderation von Patrick Primavesi, Universität Leipzig und Tanzarchiv Leipzig e.V. waren die Tänzerinnen und Choreografinnen Arila Siegert, Irina Pauls, Hanne Wandtke, Katharina Christl und der Ballettdirektor und Chefchoreograf des Leipziger Ballets Mario Schröder eingeladen.

Rezension erschienen in Musik in Dresden, 16.1.2022

Boris Gruhl

Wenn man davon ausgeht, wie es die Veranstalter sagen, dass der Tanz in der DDR eine besondere Rolle spielte, dass es unbedingt notwendig sei, dieses kulturelle Erbe zu erforschen und – vor allem – mit Blick auf die Gegenwart vor dem Vergessen zu bewahren; dann sollte man meinen, es ist auch wirklich allerhöchste Zeit damit zu beginnen! Nun, ein Anfang ist gemacht mit diesem Format. Es soll weiter gehen, wurde angekündigt. Warten wir ab.

Aller Anfang ist schwer – und das wurde auch immer wieder in den Wortmeldungen vom Podium im großen Saal des Festspielhauses spürbar, das von Patrick Primavesi, Professor für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig und Direktor des dortigen Tanzarchivs, moderiert wurde. Ein guter Anfang war es insofern, als es mit dieser Veranstaltung nämlich wieder los ging in Hellerau. Vor allem auch, weil diese Thematik lebendiger Erinnerungen sichtlich viele Menschen interessiert!

Auf dem Podium saßen neben Primavesi die Tänzerin, Choreografin und Regisseurin Arila Siegert, Irina Pauls, Choreografin und Regisseurin, Hanne Wandtke, Tänzerin und Pädagogin, Mario Schröder, Ballettdirektor und Chefchoreograf des Leipziger Balletts und Katharina Christel, Professorin des Master Studienganges Choreografie an der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden. Allein die Vorstellungsrunde mit Aufzählungen sämtlicher Auszeichnungen, weniger der künstlerischen Arbeiten, forderte viel Geduld…

Das Tanzerbe ist gut aufgehoben in den Archiven, so Wolfgang Schaller für die Sächsische Akademie der Künste, aber es muss damit gearbeitet werden.

Alle Podiumsteilnehmer sind sich einig: es geht nicht um Schnee von gestern. Nicht Asche verwalten, das Feuer weiter tragen, das soll Gustav Mahler so ähnlich gesagt haben, so Arila Siegert; 2016 kam der Dokumentarfilm über den Choreografen Martin Schläpfer heraus: »Feuer bewahren – nicht Asche anbeten«. Hat ja alles seinen Ursprung.

Ihre fachlichen Ursprünge haben alle auf dem Podium in Dresden, ausgebildet an der Palucca Schule für Tanz, heute Hochschule, und von Palucca haben sie sich auch alle inspirieren lassen. Hanne Wandtke fasst das zusammen, bei Palucca und ihrem Neuen Künstlerischen Tanz habe sie gelernt, dass alle Künste zusammengehören; der Tanz ist eine Lebenseinstellung, und es komme nun darauf an, die Dinge in einem künstlerischen Prozess richtig zusammenzusetzen. Wer Hanne Wandtkes genreüberschreitende, performative Arbeiten noch vor dem Ende der DDR erlebte, wird das nicht vergessen können. Damals gingen der Tanz, die Musik, die bildende Kunst, Facetten wortloser Kommunikation zusammen und versetzten alle in Bewegung.

Irina Pauls, Tanzausbildung – na wo wohl – bei Palucca in Dresden, Choreografiestudium an der Leipziger Theaterhochschule, inzwischen als Choreografin, Regisseurin, Lehrerin international unterwegs und gefragt. Von 1985 bis 1989 amtierte sie als Direktorin der Tanzsparte am Theater in Altenburg. Leider wird sie nicht danach gefragt, wie sie damals ein Repertoire gestaltete, wie Tradition und Moderne zueinander kamen, wie das Publikum reagierte…da hätte man ja nun auch ganz praktisch, authentisch und persönlich etwas erfahren können über den Tanz in der DDR.

Auch Mario Schröder wurde von Palucca zur individuellen Kreativität geführt. Geprägt wurde er aber auch durch den chilenischen Choreografen Patricio Bunster, der 1979 mit dem Teatro Lautaro bewusst in die DDR gekommen war und zunächst am Volkstheater Rostock arbeitete. Und wieder eine verschenkte Möglichkeit, etwas über die Spezifika dieses Künstlers zu erfahren, der ja auch in Dresden für die Kammertanzabende kreierte, da muss es doch Reaktionen geben, Presse, Erinnerungen an Publikumsgespräche…

Wenn nächstens wieder Tänzerinnen und Tänzer auf dem nächsten Podium Platz nehmen, dann doch sicher auch solche, die aus anderen Bereichen und Traditionen der DDR kommen, vielleicht auch nicht nur von Palucca auf in die Sprünge gebracht wurden.

Und die Jüngste in der Runde? Katharina Christl, mit internationalen Erfahrungen nach der Dresdner Ausbildung, die ja auch 1990, als sie ihr Studium begann, nicht frei war vom Geist der DDR, gelingt es immer erfolgreicher, junge Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Herkünfte und künstlerischen Erfahrungen, in die kreative Freiheit der Facetten choreografischen Vielfalten zu führen. Palucca aber, so auch sie, sei omnipräsent!

Aber geht es nicht doch um mehr als um das Erbe der Palucca? Nicht alle Tänzerinnen, Tänzer, Choreografinnen und Choreografen wurden bei ihr ausgebildet. Da wird dann schnell das Thema gewechselt. Und vieles bleibt ungewiss, wenn es um die Frage möglicher Rekonstruktionen geht. Es geht dann auch um Ost-West Probleme, zum Teil um bewusstes Missverstehen im Weste. Habe ich das richtig verstanden?

Dabei waren wir doch schon weiter. Emanzipation war doch kein Thema für uns, jedenfalls in der Kunst…

Ja, Marianne Vogelsang wird erwähnt, Arila Siegert hat die Präludien einstudiert, aber nicht ihr Schüler, Manfred Schnelle, der in der DDR, die Traditionen des Ausdruckstanzes weiter führte. Ging nicht an den Theatern, aber in den Kirchen. Auch ein mögliches Thema für weitere Erinnerungspodien, welche Räume suchte sich der Tanz, der ja – so wie es die Tanzkritikern Dorion Weickmann sagt, als „Muttersprache der Menschen“ überall, auch ohne Worte zu verstehen sein müsste. Noch ein Thema, das hier zu kurz kam. Und da wird auch klar: in der nächsten Runde sollten unbedingt Tanzhistoriker, Journalisten dabei sein, die sich auskennen mit dem Tanz in der DDR. Und: es gab auch andere Zentren des Tanzes, des Balletts in der DDR, auch wenn was diese Kunst betrifft, Dresden nicht im Tal der Ahnungslosigkeit dahindämmerte – darüber könnte aber vor allem jemand wie der langjährige Direktor des Dresdner Balletts Harald Wandtke Auskunft geben. Oder ein Tanzpublizist wie Volkmar Draeger.

Und was bedeutet es eigentlich, dass mit Henn Haas in Weimar die Vorformen des Tanztheaters entstanden, dass Tom Schilling von Dresden an die Komische Oper in Berlin ging, ein Tanztheater begründete, facettenreich und anspruchsvoll, und doch für jeden zugänglich, dass er einen Tänzer wie Jean Weidt, der tänzerisch aus dem antifaschistischen Widerstand kam, mit einer Gruppe von Laientänzern an die Komische Oper holte..

Also, kein Problem, aller Anfang ist schwer, aber es soll ja weiter gehen! Spezialisten wie Ralf Stabel sollen eingeladen werden, Richard Giersdorf auch. Sein streitbares Buch mit dem provokanten Titel »Volkseigene Körper« bringt noch ganz spezielle Sichten auch auf die Breite des Tanzes in der DDR gibt, wo man ja eigentlich ein ganzes Volk choreografieren wollte….

Und was bedeutete es für die Anerkennung des Tanzes in der DDR, wenn Emmy Köhler-Richter in der Saison 1961/62 am neu eröffneten Leipziger Opernhaus ein offensichtlich so tolles Ballett aufgebaut hatte, dass ihr Werner Egk sein in München wenige Tage nach der Uraufführung verbotenes Ballett »Abraxas« zur DDR-Erstaufführung anvertraute? Und ist es in solchen Zusammenhängen nicht auch wichtig, dass in Karl-Marx-Stadt, wo nach 1945 Thea Maaß und Jean Weidt das Ballett wieder aufbauten, es bald zu überregionalem Ansehen führten, und ein so charmanter wie witziger Reißer der Spitzenklasse wie das Ballett »Die drei Schwangeren« von Hermann Rudolph als erste Ost-Choreografie mit Erfolg im Westen getanzt wurde? Tom Schilling wird das fortsetzen!

Also, Fortsetzung folgt, hoffentlich bald, sonst verlischt das Feuer der Erinnerungen. Wäre wirklich schade. Das hat die erste Runde deutlich gemacht, großen Dank dafür! 

2021

In seiner Chamisso-Poetikdozentur beschreibt der Dichter Paul-Henri Campbell Ambivalenzen von Krankheit.

Tomas Gärtner

Als widersprüchlich nimmt Paul-Henri Campbell die Welt wahr. Folglich sollte Literatur sie nicht auf Eindeutigkeiten festlegen, statt dessen mit den Ambivalenzen spielen. An zwei literarischen Figuren hat das der deutsch-amerikanische Dichter im ersten Vortrag seiner Chamisso-Poetikdozentur veranschaulicht: Zum einen Goethes Faust - einer, der alles zu wissen scheint. Gerade das habe ihn immer irritiert, bekennt er in der Zentralbibliothek im Dresdner Kulturpalast. „Ich denke bei Faust an eine Poesie, die aufgehört hat zu spielen.“ Goethe entlasse sein Publikum in sieghafte Gewissheiten. Der 39-jährige Dichter hält das für Religiöses in säkularer Form. Er kennt sich aus: Neben klassischer Philologie hat er auch katholische Theologie studiert.

Anstelle von Zustimmung rät er uns zu Skepsis, dazu, Dichtern kein Wort zu glauben. „Sie sind keine verlässlichen Instanzen.“ Ihre Aufgabe sieht er nicht in Festlegungen. Vielmehr im Spiel, das von Silbe zu Silbe führt. „Das ist die einzige Bringschuld des Gedichts.“

Deshalb hält er es lieber mit seiner zweiten Beispielfigur, einem wahren Hallodri der Weltliteratur: Sir John Falstaff, der seine Auftritte in William Shakespeares Dramen „Heinrich IV.“ und den „Lustigen Weibern von Windsor“ hat. Ein verlotterter Hochstapler, der seine Zeit verspielt, nur dem Augenblick lebt und jeder Lust folgt. Das Spielerische und die Widersprüche entdeckt Campbell hier.

Das führt ihn zu seinem eigentlichen Thema: zur Ambivalenz der Krankheit, der chronischen, die das ganze Leben bestimmt. Der Dichter erinnert in Geschichten daran, kombiniert sie mit seinen Gedichten, die aus diesem Erleben entstanden. Er abstrahiert selten, bringt seine Poetik nicht auf handliche Kernsätze, sondern beschreibt anschaulich, lebendig, in gegensätzlichen Details. Das erklärt einem die poetische Kraft seiner Verse besser als jede Theorie: Sie entspringen einer Erfahrung, die das eigene Leben erschüttert. Schon der Siebenjährige, der einen angeborenen Herzfehler hat, wird im Kinderkrankenhaus in Massachusetts an einem Abszess im Kopf operiert, den die Ärzte zusätzlich entdeckten. Mit dem Infusionsschlauch im Arm verfolgt er zu Hause im Fernsehen den Fall der Berliner Mauer im November 1989.

2019, auf der Reise zu einer Lesung beim Katholischen Frauenbund aus seinem Interview-Band „Tattoo & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst“ fällt er um. Im Krankenhaus diagnostizieren die Mediziner eine Epilepsie als Nebenwirkung einer Herzoperation.

Schließlich beschreibt er in einem beeindruckenden Porträt einen Heidelberger Kardiologen, der einem wie Falstaff im weißen Kittel vorkommt. Der Herzschrittmacher, den er empfahl, erweist sich in seiner technischen Unzulänglichkeit als Problem. Inzwischen trägt der Dichter den vierten Schrittmacher in sich, nach immer größeren Operationen. „Skalpelle und Mikrochips sind halt das, was hilft“, konstatiert er sarkastisch.

Entstanden daraus ist „nach den narkosen i. chirurg“, eines seiner ganz starken Gedichte, das einen diesen Schnitt ins Leben in zerschnittener Sprache erleben lässt, durch die er sacht einen allmächtigen Gott schimmern lässt.

Man sträubt sich, das mit dem Autor als Spiel zu betrachten. Wenn’s ums Leben geht, ist der Einsatz da nicht zu groß? Es wäre denkbar, all dies auch als Tragödie zu erzählen, als Existenz unter einem Verhängnis. Dass Paul-Henri Campbell statt dessen Humor aufbringt, verleiht seinen Sätzen trotzige Kraft. Das lässt uns keine Ruhe, aber es erdrückt uns nicht.

 

Interview mit Paul-Henri Campbell zu seiner Chamisso-Poetikdozentur »Ins Fleisch«

Seit 2020 erlebt die Chamisso-Poetikdozentur, die von der Sächsischen Akademie der Künste zusammen mit dem Verein Bildung und Gesellschaft e.V. und den Städtischen Bibliotheken Dresden ausgerichtet wird, eine Neuauflage. Herausragende Dichter und Schriftsteller, die einen Sprachwechsel vollzogen haben, denken in der Vortragsreihe über poetologische Voraussetzungen ihres Schreibens nach. In diesem Jahr ist der1982 in Boston geborene Dichter Paul-Henri Campbell eingeladen. Mit seinen Lyrikbänden »Space Race« (2012), »Am Ende der Zeilen« (2013) und besonders »nach den narkosen« (2017) hat er sich eindrücklich in die junge deutsche Lyrik eingeschrieben. 2019 gab er den Interview-Band »Tattoo & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst« heraus.DRESDNER-Autor Aron Koban hat ihn zu seiner Dozentur befragt.

 

In welcher Ferne bzw. Nähe sehen Sie sich heute zu den USA?

Paul-Henri Campbell: Ich habe die allergrößte Zeit meines Lebens in Deutschland verbracht. In Boston ist meine Kindheit, die ich empfindlich und etwas verklärt hüte. Ich kam ja schon mit 13 Jahren nach Unterfranken. Mein Vater ist ein Amerikaner, meine Mutter eine deutsche Krankenschwester. Letztlich bin ich ein spätes Produkt des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges. Ich glaube, meine Mutter hat früher zu viel Karl May gelesen und mein Vater zu viel ABBA gehört.

Wie empfinden Sie den Begriff »Migrantenliteratur«?

Paul-Henri Campbell: Ich finde, wenn um Literatur herum so ein Charity-Klima entsteht, dann ist das für alle ungut. Wenn man einen Menschen achten möchte, gibt es bessere Wege, als ihn dazu zu verdonnern, ein Dramolett zu schreiben oder Geld mit wehklagenden Liebesgedichten zu verdienen. Und trotzdem gibt es Stimmlagen, Zungenschläge, Versprecher und Sprachfehler, die eine neue Schwingung ins Schreiben bringen. Wie man das nennt, finde ich unwichtig, solange man es erkennt.

Literatur, Lesen, dehnt sich in meiner Lebenszeit aus, in der ich auch was anderes machen könnte. Niemand zwingt mich dazu, meine Zeit für einen Text herzugeben. Es gibt Literatur, die von sich aus interessant und anziehend ist, mich erfüllt, mich inspiriert, die mich süchtig macht. Lesen gibt aber was, was vorher nicht da war, und wird im Allgemeinen als ein hübscher oder guter – Protestanten sagen wohl als ein »lohnender« – Zeitvertreib wahrgenommen. Oder wollen Sie etwa von Texten ohnmächtig und noch depressiver werden? Darüber möchte ich während dieser Dozentur nachdenken.

Warum haben Sie Ihrer Poetikdozentur den Titel »Ins Fleisch« gegeben?

Paul-Henri Campbell: Ich fühle mich beim Schreiben manchmal wie ein Metzger. Ich mag Filetstücke, natürlich Wilde, auch Beckett und Bäckchen. Zu Hacks sage ich nicht nein. In der Früh etwas Bacon: »Die Imagination ist dem Menschen gegeben, um das zu kompensieren, was er nicht ist. Humor ist ihm gegeben, um ihn mit dem zu versöhnen, was er ist.« Beim Parieren muss man besonders genau sein, sonst hat man im Hauptgang nur sehniges Fleisch, das kaum zu verdauen ist. Bei Literaturgerichten ist mir alles, was vom Poissonnier kommt, ungenießbar, außer Shelley. Tiefseefischer sind furchtbar, nicht so Merwin. Zum Saucier empfinde ich eine große Zuneigung, besonders wenn er Chaucer heißt und mit Feenstaub garniert.

Ihre jüngsten Bücher »nach den narkosen« und »Tattoo & Religion« weisen auf das Thema Körper, Körperlichkeit.

Paul-Henri Campbell: Ich glaube, der Körper ist im 21. Jahrhundert das, was die Kathedrale im Mittelalter war – der Ort, wo alles zusammenkommt, wo wir Heutigen, wer immer wir sind, uns über uns selbst verständigen, unsere Kulte betreiben, unsere wesentlichen Symbole und Geschichten markieren. Und Narben, die sind ja auch nicht nur Kratzer im Lack, sondern Spuren, Lebensspuren.

Was haben Sie in den Vorlesungen der Dozentur vor?

Paul-Henri Campbell: Naja, ich mochte der Charme in Chamisso sein. Also hoffentlich. Wenn es nicht gut geht, bin ich dann wohl die Scham in Chamisso. Ich will zeigen, was das ist, wenn wir Literatur machen. Wie sie uns inspirieren kann. Eine persönliche Perspektive entwickeln. Das heißt nicht: Literatur macht Leser mächtiger oder freier oder gesünder oder toleranter oder überhaupt zu besseren Menschen. Ich will überlegen, warum Literatur oft zu so einem Serum gegen das Böse stilisiert wird. Weil, wenn ich so auf Gedichte schaue, die ich verfasst habe, da sehe ich, dass Literatur nicht, also null, zur Therapie taugt. Sie ist vielmehr wie Tätowierungen. Sie besticht und feiert Text als einen Textkörper, dem man gerne begegnet. Die Sprache ist ebenfalls voller hinkender Vergleiche und kann unter Umständen zu Einschnitten führen.

Chamisso-Poetikdozentur »Ins Fleisch« mit Paul-Henri Campbell, am 15., 22., 29. November 2021, jeweils 19.30 Uhr, Vortrag und Diskussion, Zentralbibliothek im Kulturpalast.

 

 

 

Die chilenische Künstlerin Sandra Vásquez de la Horra gehört zu den bemerkenswertesten Zeichnerinnen unserer Zeit. Im Sommer erhielt sie den Hans Theo Richter-Preis. Ein Gespräch über die Kunst zwischen den Kontinenten, magischen Realismus und Joseph Beuys.

Interview Sebastian Strenger

taz: Sie sind in Viña del Mar vor den Toren von Valparaíso am Pazifik aufgewachsen. Wie war Ihre Kindheit?

Sandra Vásquez: Mein Großvater war Republikaner und mein Vater Atheist. Ich habe mich von jeher mit Religion befasst. Kunst hing in meinem Elternhaus nicht. Mit ihr bin ich erstmals in der Schule in Berührung gekommen. Auf dem italienischen Gymnasium bekam ich vor allem Zugang zur italienischen Renaissance. Das erste Gemälde sah ich im Alter von 12 Jahren, ein naives Bild des Literaten Pablo de Rokha im Elternhaus einer Schulfreundin. Meine Schule schloss ich mit 17 ab. Mit 18 Jahren bestellte ich in einer Buchhandlung mein erstes Kunstbuch, das aus Frankreich kommen musste, da es Bücher über Jean Dubuffet in Chile nicht gab.

Was war Ihr Schlüsselerlebnis, das Sie dann zur Kunst brachte?

Mit 19 Jahren besuchte ich in meiner Heimatstadt erstmals eine Kunstausstellung mit Grafik der 1970er Jahre. Vor allem Joseph Beuys war es, der mich dort beeindruckte. Ich wollte immer etwas Experimentelles machen, jedoch gab es in Valparaíso keine Kunstakademie. Also bin ich nach Santiago (de Chile) gegangen und habe dort Druckgrafik gelernt. Ich war dort auch ein Jahr auf der gerade neu eingerichteten Kunsthochschule.

Das war aber auch die Zeit der Pinochet-Diktatur (1973–1990). Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Ich ging in dem Jahr nach Santiago, als gerade die Volksbefragung (1988) zur Abschaffung der Diktatur stattfand. Ich wohnte dort im Haus des Präsidenten der Kommunistischen Partei Chiles, Tomás Moulian, der der Vater einer sehr guten Studienfreundin war und mich als seine zweite Tochter „adoptierte“, nachdem meine Familie mich in meinem Kunststudium nicht unterstützen wollte.

Hat Sie der Kommunismus in Ihrer Kunst geprägt?

Ja. Der Einfluss war groß. Ich konnte dadurch nicht in die materialistische Kunst einsteigen. Eine Jeff-Koons-Kunst wäre nicht gegangen. Das war auch der Grund, warum ich bis heute nur Papierarbeiten mache. Ich kann nur mit Papier arbeiten!

Sie wachsen Ihre Papierarbeiten. Was hat es damit auf sich?

Für mich ist dieses Vorgehen wie ein Schutz vor Feinden. Am Ende geht es immer darum, etwas zu schließen. Wenn du etwas abschließt, kannst du nicht weitermachen. Du hast der Arbeit eine Seele gegeben.

Das Wachs ist also ein Schlusspunkt?

Die Wirkung verändert sich; Grafit und Aquarell bewegen sich – alles wird viel malerischer. Die ausschließliche Zeichnung ist jedoch viel härter, mit dem Wachs kehrt aber Atmosphäre ins Bild ein. Bei Lichteinfall wirkt sie zudem transparent. Das Wachs macht aus den Zeichnungen Objekte und manche in der derzeitigen Preisträgerausstellung sind zudem auch beidseitig bemalt und wirken dreidimensional. Ich spiele mit den Möglichkeiten.

Heute ist Ihr Lebensmittelpunkt in Berlin. Wie kam Sie nach Deutschland?

Mit 28 Jahren habe ich den chilenischen Maler Ciro Beltrán geheiratet und wir gingen nach Deutschland. Er studierte damals in der Malerklasse von Konrad Klapheck an der Kunstakademie Düsseldorf. Meine Tochter Clara war acht Monate alt und es war zunächst nicht meine Entscheidung, hierher zu kommen. Ich fing dann aber an, mit Jannis Kounellis zu arbeiten. Krankheitsbedingt war ich dann in Chile. 2000 nahm ich bei Rosemarie Trockel mein Studium wieder auf.

Welche Einflüsse hatten Ihre Lehrer?

Klapheck hat mich in vielen Gesprächen den Realismus gelehrt. Jannis Kounellis hat meine Zeichnungen sehr geschätzt. Er meinte: Meine Zeichnungen sind sehr klein, aber monumental. Das hat mich vor allem deshalb gefreut, da er als sehr kritischer, aber auch ungerechter Mensch unter den Studenten galt. Aber ihm verdanke ich auch die Beschäftigung mit Bruce Nauman und dessen Dualität und Symbiose, wenn es um Identität geht.

Worum geht es genau in Ihrer Kunst?

Mir geht es um das große Verschwinden. Das Essentielle für mich ist, friedlich zu sein und nicht wirklich aufzufallen. Ebenso wenig in meiner Kunst. Meine Bilder erzählen dabei dann auch von einer Welt, wie die unter Wasser. Denn wenn du unter Wasser bist, kannst du loslassen. Es hat mit dem Gefühl zu tun, nicht mehr kämpfen zu müssen und es einfach fließen zu lassen. Auch die Kunstwelt ist ein großer Kampf und ich wollte nie Teil dieser Kämpfe sein.

Ihre Bilder haben etwas vom Übergang des magischen Realismus zum Surrealismus …

Naturreligion hat viel zu tun mit Surrealismus und ich bin durch diese sehr stark beeinflusst. Ich habe dabei sehr viel von der Religion der Yoruba gelernt. Dafür hatte ich 2003 eine Initiation mit einer hohen Priesterin auf Kuba. All dies hat mit meinen Wurzeln in der Inka-Kultur zu tun. Durch die indigene Herkunft meiner Großmutter hat das großen Raum in meinem Werk gewonnen. Dazu gehört auch der Totenkult.

Der Totenkult als bildgebendes Element?

Die Populärkultur sieht im Tod immer noch ein Tabu. Anders also als im Mittelalter, als der Tod noch stärker Teil des Lebens war und zum Lebensstil gehörte. In meinen Bildern findet sich hier keine Trennung. In unserer Kultur feiern wir den Tod. Und innerhalb des Totenkults der Inkas gibt es viele Parallelen zum Katholizismus, wie etwa die Prozessionen. Allerdings wurden diese in Peru mit Mumien vollzogen.

Wie sind Sie mit Corona umgegangen?

Ich habe mich nicht impfen lassen. Ich glaube auch nicht so sehr an die Schulmedizin, als vielmehr an Naturmedizin. Ich habe die ganze Zeit nur Honig gegessen. Das ist meine tägliche Impfung und ich glaube bereits seit meiner Kindheit daran.

Honig, Bienen und Wachs. Finden Sie in den Insekten und ihren Produkten die gemeinsame Schnittmenge von Leben und Kunst?

Der Bauer auf der Finca meines Vaters war Imker. Ich bin mit Bienen aufgewachsen. Honig war unser Elixier. Übrigens auch meine Verbindung zu Joseph Beuys, der sowohl Honig, Bienen und Wachs in seiner Kunst einsetzte, ebenso wie einfachste Materialien, die verbunden waren mit Schamanismus, der auch in meinem Werk eine große Bedeutung hat. Genauso wie der Feminismus in der Kunst seine Bedeutung hat. Er war für viele Frauen der einzige Weg, das Recht zu haben, etwas zu sagen.

 

Sandra Vásquez de la Horra (*1967) verknüpft in ihrem bemerkenswerten zeichnerischen Werk die Traditionen und Mythen ihrer chilenischen Herkunft mit menschlichen Urerfahrungen und der europäischen Kulturgeschichte zu einer poetischen Bildwelt. Ihre Ausstellung „Geheimnis umhüllte Welt“ läuft noch bis zum 22. Dezember in der Sächsischen Akademie der Künste in Dresden.

Hans Theo Richter-Preis

Der Hans Theo Richter-Preis zählt im deutschsprachigen Raum zu den renommierten Kunstpreisen, die das Werk internationaler Künstler in den Bereichen Zeichnung und Grafik auszeichnet. Hierfür verleiht die Sächsische Akademie der Künste in Zusammenarbeit mit der Hildegard und Hans Theo Richter-Stiftung und dem Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden den mit 20.000 Euro dotierten Preis, der in der diesjährigen 12. Preisverleihung im Albertinum an die chilenische Künstlerin Sandra Vásquez de la Horra überreicht wurde

 

Geheimnis umhüllte Welt  – Die gebürtige Chilenin Sandra Vásquez de la Horra wurde mit dem Hans Theo Richter-Preis 2021 geehrt

Zum 12. Mal hat die Sächsische Akademie der Künste den mit 20000 Euro dotierten Hans Theo Richter-Preis verliehen. Die in finanzieller Trägerschaft der Hildegard und Hans Theo Richter-Stiftung stehende Ehrung erhielt die 1967 im chilenischen Viña del Mar geborene, heute in Berlin lebende Künstlerin Sandra Vásquez de la Horra. Anlässlich der Auszeichnung zeigt die Sächsische Akademie der Künste in Zusammenarbeit mit der Hildegard und Hans Theo Richter-Stiftung sowie dem Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden eine Ausstellung mit 42 Werken der Künstlerin aus den letzten 20 Schaffensjahren. 

Lisa Werner-Art

Zum 12. Mal – erster Preisträger war 1998 Max Uhlig - wurde am vergangenen Freitag der mit 20000 Euro dotierte Hans Theo Richter-Preis der Sächsischen Akademie der Künste verliehen. Die der Grafik und der Zeichnung gewidmete Ehrung, die in Zusammenarbeit mit der Hildegard und Hans Theo Richter-Stiftung sowie dem Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden vergeben wird, ging diesmal an die in Berlin lebende gebürtige Chilenin Sandra Vásquez des la Horra. Mit der Verleihung wird eine bereits von Werner Schmidt begründete Bemühung fortgesetzt, die Ehrung national und international breit aufzustellen. 2017 hatte die Auszeichnung die gebürtige Südafrikanerin Marlene Dumas erhalten.

Ganz neu ist der Name von Sandra Vásquez de la Horra in Dresden nicht, war sie doch bereits in der Ausstellung „Crossing Borders“ aus Anlass des 300. Jubiläums des Kupferstich-Kabinetts mit drei Arbeiten beteiligt. Auch in der Zukunft wird die Zeichnerin und Grafikerin hier präsent sein, ist die Ehrung mit dem Hans Theo Richter-Preis doch mit der Schenkung einer Werkgruppe – in diesem Fall eine Serie von verschiedenartigen Grafiken - seitens des/der Geehrten an die traditionsreiche Dresdner Sammlung verbunden. Auch unter diesem Aspekt kann man die Jury, bestehend aus Mitgliedern der Klasse Bildende Kunst der Sächsischen Akademie der Künste, dem Vorstand der Hildegard und Hans Theo Richter-Stiftung in Person Sebastian Schmidts und Stephanie Buck, Direktorin des Kupferstich-Kabinetts, zu ihrer Wahl nur beglückwünschen, die, wie beim Pressetermin zu hören war, „schnell zu einem einvernehmlichen Urteil“ gekommen ist.  

Bis Dezember besteht nun die Möglichkeit, sich unmittelbar von der Qualität des Schaffens der Künstlerin überzeugen. In der Sächsischen Akademie der Künste haben Stephanie Buck  und Mailena Mallach eine sehenswerte Ausstellung mit 42 der ungewöhnlichen, gleichwohl zeitlosen und von allen Markterwägungen freien Arbeiten von Sandra Vásquez de la Horra aus den letzten 20 Schaffensjahren unter dem Titel „Geheimnisumhüllte Welt“ zusammen gestellt. Zu den schon wegen seiner Größe am meisten auffallenden Werken gehört etwa „Aguas profundas“ (Tiefe Wasser, 2016/17). Man könnte in dieser großen Figur – das Figurative ist eines der Merkmale des Schaffens der Künstlerin -, eine/n Stürzenden oder auch durch den Raum Schwebenden sehen. Das Besondere: sein Rücken scheint durch eine metallische Stütze zusammengehalten oder auch eingeengt, was dem Ganzen etwas Surreales verleiht, das auch anderen Arbeiten eigen ist. Dies verbindet sich wiederum mit Elementen aus der indianischen Mythologie, aber auch der westlichen Kunstgeschichte. So hat man schon auf den ersten Blick den Eindruck als blickte man in eine Art „Capriccios“, wie man sie von Goya kennt, zumal Ängste und Gewalthaftes an vielen Stellen des Gezeigten hindurch scheinen – nicht zuletzt auch in Gestalt des beschriebenen metallischen Rückgrats.

Ebenso thematisiert die Künstlerin Identität und Heimatverlust – nicht zuletzt in einer Serie Leporellos oder auch zu „Häusern“ gewordenen zeichnerischen Arbeiten.        

Durch viele der gezeigten Werke scheint ohne Vordergründigkeit die Diktaturerfahrung der 1967 in Viña del Mar geborenen Künstlerin hindurch, die als Heranwachsende Chile zugleich als Experimentierfeld der „Chicago Boys“, also eines extremen Wirtschaftsliberalismus, erlebte, dessen folgen bis heute weite Bevölkerungsteile auf die Straße treibt. Widerstand nimmt bei ihr etwa die Form einer großformatigen Vogelgottheit an, die „Die Stimme eines Volkes, das kämpft“ (La Voz de un Pueblo que lucha, 2019) verkörpert. Anderswo ist es eine in den weiten Rock der südamerikanischen Hochlandindianer gekleidete Frau, die kraftvoll ausschreitet und abwehrend die Hände zu einem „No Pasaran los Venceremos mi amor“ (Sie werden nicht durchkommen, wir werden gewinnen, meine Liebe, 2020) von sich streckt. Gewalt und Gefahr drückt seinerseits ebenso ein kleinformatiger, beeindruckender Todesengel aus, der zugleich an eine  Bildgestalt der westeuropäischen  Kunst des Symbolismus oder Surrealismus erinnert.                                                                                                                                           

Alle diese Arbeiten sind von hoher zeichnerischer Qualität. Die Zeichnung, die ja auch für die Grafik entscheidend ist, scheint für Sandra Vásquez de la Horra  d a s  Medium zu sein. Ihm frönt sie seit ihrer frühen Jugend. Mit feinsten, exakten Strichen schafft sie ihre teils menschgroßen Figuren, die sie aus mehreren Teilen zusammensetzt. So besteht die eingangs genannte schwebende Figur aus drei Bögen, die im Abstand von etwa einem Zentimeter objekthaft an der Wand befestigt sind. Das Besondere ist, dass die Bögen nach Vollendung der Bleistiftzeichnung, manchmal noch ergänzt mit etwas gelben oder roten Stift oder weißer Wasserfarbe, in Wachs getaucht werden. Dadurch erhalten die Arbeiten etwas Durchscheinendes, Luzides, was deren Objekthaftigkeit unterstreicht.              

Sandra Vásquez de la Horra hat zunächst in ihrer Heimatstadt (1989 bis 1994) an der University for Design Visuelle Kommunikation studiert. Daran anschließend ging sie nach Düsseldorf, um dort bei Jannis Kounellis zu studieren. 1999 bis 2002 war sie Studentin bei Rosemarie Trockel. Zugleich absolvierte sie 2001 bis 2003 ein Postgraduiertenstudium an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Seit den 1990er Jahren erhielt sie mehrere Stipendien und Preise. Sie kann auf zahlreiche Einzelausstellungen in Museen aber auch privaten Galerien sowie Gruppenausstellungen in Europa, Asien und Amerika zurückblicken. Unter anderem Museen und öffentliche Sammlungen in Santiago de Chile, New York, Paris, Maastricht, Düsseldorf, Berlin und München können auf Arbeiten der Künstlerin verweisen. Dass nun auch das Kupferstich-Kabinett solche sein eigen nennt, ist also durchaus angemessen.

Ausstellung bis 22. Dezember 2021, Mo – Fr ab 10 Uhr,
Sächsische Akademie der Künste, Palaisplatz 3, 01097 Dresden

 

2020

Adelbert von Chamisso hätte seine Suche nach der Identität eines Europäers gerade in unserer Zeit der ideologischen Spaltungen und Radikalisierungen fortgesetzt – davon ist Artur Becker überzeugt. Mit dem 1968 in den polnischen Masuren geborenen Autor Artur Becker begann die Chamisso-Poetikdozentur 2020, die von der Sächsischen Akademie der Künste neu initiiert wurde. In seinen letzten beiden Vorlesungen zur Chamisso-Poetikdozentur 2020 lotet der polnische Schriftsteller die großen Fragen nach Glauben, Rationalität und Aufklärung aus.

Tomas Gärtner

Mit seinen Gedichten, Romanen, Essays befindet sich Artur Becker auf der Suche nach dem Bleibenden angesichts einer sich verändernden Welt und eines vergänglichen Menschen. Als Leitmotiv zog sich das auch durch die drei Vorträge der Dresdner Chamisso-Poetikdozentur des Autors, der 1968 im polnischen Bartoszyce geboren ist, seit 1985 in Westdeutschland lebt und vorwiegend auf Deutsch schreibt.

Immer wieder empfahl er das als Maßstab für gute Literatur: sich Fragen zu widmen, die nicht verschwinden, sobald die Gegenwart zur Vergangenheit geworden ist, sondern sich in 500 Jahren noch stellen. Aus solcher Perspektive können "Wenderomane" zur Nebensache werden.

Wir konnten einen philosophisch denkenden Schriftsteller erleben, der in sprachlicher Eleganz biografische Erfahrung, Herkunft, nationale Eigenheiten mit den großen existenziellen Fragen verflocht. Im vertiefenden Gespräch nach jedem Vortrag erwies sich sein Gesprächspartner, der aus Dresden stammende Dichter und evangelische Theologe Christian Lehnert, als Glücksfall - indem er nachbohrte und gegenhielt, Becker da und dort zu präziseren Bekenntnissen bewegte.

Die Vorträge waren der Gang durch ein weitläufiges Gedankengebäude. Viele Türen öffnete er für einen Moment, ließ uns einen Blick in einen Denkraum werfen, im Untergeschoss zum Beispiel in den von Platon oder der griechischen Mythologie. In den Zwischengeschossen Kant, Herder, Nietzsche, Kierkegaard, Foucault, Simone Weil, Wladimir Solowjow, Leo Schestow, Zygmunt Bauman. Ganz oben sein Säulenheiliger: Czeslaw Milosz. Die Leidenschaft, mit der er sie zitiert, weckt Lust zum Nachlesen.

Herkunft ist für ihn geprägt von der Familie, die in ihm wohne "wie in einer verstaubten Bibliothek". All ihre Mitglieder möchte er in seiner Literatur unsterblich machen. "Tod und Vergessen sind meine kosmischen Feinde." Eine Großmutter stammt von den Pruzzen ab. Einer seiner zahlreichen Hinweise auf ein ursprünglich ethnisch vielfältiges Polen.

Seine Kindheit und Jugend prägte das Nebeneinander von traditionell-folkloristischem Katholizismus und kommunistischer Ideologie. Ein Gegensatz nur scheinbar, wie er zeigt. Der Realsozialismus war für ihn nicht nur politisches Ordnungssystem, sondern ebenfalls Angebot zum Glauben. In keinem von beiden wurde er heimisch, stellte ketzerische Fragen, womit seine frühe Entwurzelung begann.

Das Seine suchte er statt dessen im intensiven Erleben der Natur, die er als widersprüchlich erfuhr: Schönheit, aber auch Fresse und Gefressenwerden. "Ich glaubte an einen verborgenen Sinn des Lebens, der weder in der Kirche noch auf Maidemonstrationen zu finden war."

Um etwas Göttliches, Transzendentes, nicht identisch mit dem "Kirchengott" ging es auch Adam Mickiewicz. Enthusiastisch schilderte Becker, wie dieser berühmteste polnische Romantiker den wichtigen dritten Teil seines Dramenzyklus "Totenfeier" von März bis Juni 1832 in Dresden verfasste, in einem Haus in der damaligen Töpfergasse am Neumarkt. "Die Dresdner müssten stolz sein. Es ist eines der schönsten Werke der polnischen Literatur."

Ein Gedanke darin: Dass ein Totenreich existiert, das weitaus größer ist als unsere reale Welt. Es geht um die Emanzipation des menschlichen Geistes und die Kritik an einem übertriebenen Rationalismus, die sich bei Mickiewicz jedoch innerhalb der Grenzen der Aufklärung bewege. Die wahre Größe des menschlichen Geistes kommt aus dem Herzen.

Den Messianismus indes, den Glauben, Polen werde in christlichem Geist die Menschheit erneuern, hält Becker "für ein gefährliches Feuer". "Genauso gefährlich wie die Überbetonung des Rationalen."

Er fragt nach den Grenzen der Erkenntnis. "Dichter können mehr erkennen als Philosophen." Sie schöpfen aus der Eingebung. Die Moderne, konstatiert er, mache Menschen einsam. "Der Verstand gibt keine Wärme." Er könne lediglich eine Ersatzwelt für Liebe und Nähe schaffen, heute etwa mit digitalen Dating-Portalen.

Und Artur Becker stellt sich immer wieder die Frage, ob wir Religion heute wirklich nicht brauchen. Er selbst sieht sich als Vertreter eines synkretistischen, also verschiedene Religionen und Philosophien vermischenden Denkens. Doch gleich, ob Atheismus oder Religiosität - für die wichtigste Eigenschaft seines geistigen Landes "Kosmopolen" hält er Toleranz.

 

 

Das öffentliche Programm anlässlich der Mitgliederversammlung der Sächsischen Akademie der Künste war den "Künstlichen Paradiesen" gewidmet und möglichst vielen Besuchern offenstehen. Unter derzeitigen Bedingungen kein leichtes Unterfangen und doch lohnenswert und "in merkwürdiger Weise zur derzeitigen Weltzäsur passend", schreibt Alexander Keuk.

Alexander Keuk

In Arthur Schnitzlers "Grünem Kakadu" wird in einer Spelunke die Traum- und Theaterwelt beschwört, während draußen die Revolution in Paris vorbeitobt. Chef der Kneipe ist ein ehemaliger Theaterdirektor, und die Besucher schlüpfen in allerhand Rollen. Damit wird das Draußen ertragbar, zumindest solange man die Illusion eines "künstlichen Paradieses" drinnen aufrechterhalten kann.

Auch wenn bei der multiperfomativen Veranstaltung der Sächsischen Akademie der Künste in den Kunstsammlungen im Japanischen Palais am Sonnabend eher Baudelaire mit seinem gleichnamigen Essayband beschworen und gewürdigt wurde - Oda Pretzschner und Lars Jung mit einer starken Performance - waren auch Schnitzlers Welten nicht weit entfernt. Für eine Groteske hätte allerdings noch mehr Abseitiges, Provokantes oder Karikierendes angeboten werden müssen, doch Akademiepräsident Holk Freytag war in seiner Begrüßung zunächst einmal heilfroh, dass sich angesichts von Auflagen und Bestimmungen die Kunst an diesem Abend entfalten durfte.

Da nur eine Hundertschaft Interessierte sich überhaupt auf die Räume verteilen durfte, umwehte eine Wolke des exklusiven Kunstgenusses den ganzen Abend und ging das Stattfinden des kleinen Kunstfestes einher mit einer Wandelkonzeption: Sängerinnen und Sänger des Ensembles AuditivVokal Dresden führten das Publikum durch die Räume der aktuellen Ausstellung "Inspiration Handwerk" , die durch etwa ein Dutzend Performances - vorwiegend gestaltet durch Mitglieder der Akademie - belebt und teilweise auch kommentiert oder gespiegelt wurden.

Der Hauch einer Groteske blieb dann doch den ganzen Abend bestehen, wenngleich nicht immer absichtsvoll. Im Hof zweifelt Schriftsteller Volker Braun noch neben einem Heizpilz stehend: "Soll ich hier wirklich lesen?" Er kann überzeugt werden und bringt Verse aus seinem Zyklus "Große Fuge" zu Gehör - eine Art lyrischer Verschlagwortung eines aus aktuellen Ereignissen geborenen Wortschatzes, den wir seit einem halben Jahr kennen, folgen und (be-)fürchten lernen.

Vom Balkon des von Claudia Reh prachtvoll illuminierten Palais tönt das Volkslied "Ach Elslein", der Caterer bietet "Mouse au chocolat" und "Wintergrütze" an. Im Haus tanzt Katja Erfurth zu Florian Mayers Geigenklängen, die Helmut Oehring aufs Papier gebracht hat. Eine spannende visuelle Ebene bildet der im Hintergrund gezeigte Film von Donata Wenders über die Tradition des Webstuhlhandwerks, der vielfältige Assoziationen zu Fäden, Saiten und Körpern zulässt.

Draußen klopft Komponist und Percussionist Manos Tsangaris derweil an den Hochbeeten die neueste Lyrik von Marcel Beyer ("Dämonenräumdienst") auf klangliche Qualitäten ab, das ist so schön nebenbei performt, dass man sich schließlich doch beim Zuhören erwischt. Beim Tanz von Nicola Brockmann ("Leere und Form" von Wolfgang H Scholz), die sich aus einer Plastikfolie schält, soll ich mich bitte hinsetzen, man sähe ja gar nichts.

Fünf Lyriker haben sich drinnen inzwischen den ungemütlichsten Raum hinter dem Museumsshop gewählt und verteilen am Stehpult eher wenig paradiesische Worte, zum Teil aus dem Osterzgebirge. Sehr intim wird es auch im Raum von Susanne Stock, die kurze Solostücke auf dem Akkordeon spielt, die aber, wie etwa "Journal Nr. 6" von Annette Schlünz, sehr feingewebte Strukturen und Charaktere haben und in großartiger Spannung erklingen. In der Musik verlieren, das geht also noch. Draußen steht Volker Braun auf der Bühne und sagt "Ich breche jetzt ab."

Um zehn ist das kleine Kunstfest zu Ende; sie lebt noch, die Kunst - im Wandeln erfahren und in Räume verzurrt, minimalgeformt. Dass eine Tanzperformance von Irina Pauls dabei im Hof marschmaschinell auf der Stelle trat, passte in merkwürdiger Weise zur derzeitigen Weltzäsur Die "künstlichen Paradiese" indes gilt es weiter zu bewahren, aber auch zu befragen.

Chamisso-Poetikdozentur: Artur Becker bietet "Kosmopolen" als Alternative zu Nationenverleugnung und Nationalismus an

Tomas Gärtner

Es gibt einen Patriotismus und Konservatismus, der mit Nationalismus nichts zu tun hat. Davon ist Artur Becker überzeugt. "Man muss als Migrant seine Wurzeln nicht ablegen, aber offen sein für das Land, in dem man lebt." Mit solchen Gedanken, gespeist aus seiner Erfahrung, bereichert der 52-jährige Schriftsteller und Dichter die Diskussion hierzulande - indem er eine Art der Betrachtung und des Denkens aus unserem östlichen Nachbarland importiert. Als 16-Jähriger kam er mit seinen Eltern nach Westdeutschland. Heute betrachtet er sich als "polnischen Autor, der auf deutsch schreibt."

Mit seinem ersten Vortrag in der Zentralbibliothek im Kulturpalast lebt die Dresdner Chamisso-Poetikdozentur wieder auf. 2011 endete sie nach zehn Jahren. Für Literatur-Seniorprofessor Walter Schmitz, Motor auch der Neuauflage des Chamisso-Preises - nun mit dem Zusatz "Hellerau" - ist sie nötiger denn je: als "einer der Wege, die aus selbstbezüglichem Nationalismus herausführt".

Theatermann Holk Freytag, Präsident der Sächsischen Akademie der Künste, macht drei Blickwinkel auf die Europäische Union aus: einen aus dem Westen, einen aus dem Osten und einen von außerhalb. Einer wie Artur Becker könne helfen, "das ganze Europa wahrzunehmen". Christian Lehnert, Dichter und evangelischer Theologe, bewundert Becker als "genauen und sprachmächtigen Übersetzer polnischen Denkens in deutsche Vorstellungsräume". Als einen, dessen Werke philosophische Gedanken durchziehen.

Ihren Ausgangspunkt haben die meisten dort, wo er Kindheit und Jugend als Pendler verbrachte: Im Winter im masurischen Bartoszyce, dem ostpreußischen Bartenstein, im Sommer am  Dadajsee im Ermland. Dort beobachtete er Touristen aus der DDR und aus Westdeutschland in einträchtigem Nebeneinander: Die einen entluden ihre Trabis, die anderen ihre Audis. "Die deutsch-deutsche Vereinigung hat damals in diesem Erholungszentrum begonnen", stellt er mit dieser Schalkhaftigkeit fest, die sein Denken belebt.

Er kritisiert überhöhten polnischen Nationalstolz, benennt Widersprüche in der polnischen Geschichte, im polnischen Katholizismus und Wahrnehmungslücken beim Blick des einen Nachbarn auf den anderen. Westdeutsche Linke konnten sich 1980 nicht vorstellen, wie man Gewerkschafter und katholisch sein konnte. Deutsche Historiker wissen zu wenig über die Zeit der deutschen Okkupation 1939 bis 1945, Teil polnischen Geschichtsbewusstseins bis heute. Becker wiederum musste über die Nazizeit in Deutschland dazulernen.

Auf seine polnische Herkunft möchte er nicht reduziert werden. Er spricht von sich als Emigrant oder Exilant. "Spätaussiedler" lehnt er als problematischen Begriff und schlechtes Deutsch ab. Als solcher hat er sich einen dritten Raum zwischen Herkunfts- und Einwanderungsland schaffen müssen: Als Heimatloser bewohne er die "Freiheitsrepublik Kosmopolen". Ein geistiger Raum, in dem er nationale Identität besitzt, zugleich offen für eine andere Nation ist.

Das postnationale, die Nation überwinden wollende Denken mancher westlicher Politiker lehnt er ebenso ab wie Nationalismus. "Wir haben im 20. Jahrhundert für den Nationalismus einen viel zu großen Preis gezahlt." Parteien indes wie die PiS in Polen, AfD in Deutschland oder Bewegungen wie Pegida in Dresden hält er für gefährlich. "Rechtskonservative, rechtsnationale Politiker und Medien lassen für das Fremde keinen Raum und instrumentalisieren die Angst."

In seine Republik Kosmopolen lade er gern Gäste ein, sagt Artur Becker. "Die europäische Identität ist verstaubt. Lasst sie uns erfrischen."

nächste Termine: 1. Oktober "Entwurzelung und Freiheit"; 22. Oktober "Mystizismus versus Aufklärung", jeweils 19.30 Uhr, Zentralbibliothek im Kulturpalast

Mit Artur Becker wird Dresdens großartige Idee der Chamisso- Poetikdozentur wiederbelebt

Karin Großmann

Artur Becker besitzt ein eigenes Paradies. Ein Land zwischen den Welten ohne Reisepässe, Denkvorschriften, selbstgerechte Nationalismen. "Ich habe meine eigene geistige Republik und lade gern mir Gäste ein", sagt er über das Land, das er Kosmopolen nennt. An diesem Donnerstag ist der Schriftsteller selber Gast. In der Dresdner Zentralbibliothek beginnt ein neues Kapitel im deutschlandweiten Literaturdiskurs. Nach acht Jahren Pause wird die Chamisso-Poetikdozentur neu belebt. Nachdem sich die Bosch-Stiftung aus dem Projekt zurückzog, kümmert sich nun die Sächsische Akademie der Künste um Autoren, die aus einer anderen Muttersprache kommen und auf Deutsch schreiben.

Artur Becker wuchs in Polen auf. An diesem Abend malt er ein Bild von sorglosen Feriensommern an einem See im Ermland. Dort, sagt Becker, begann die deutsch-deutsche Vereinigung. Urlauber aus Ost und West packten ihre Campingausrüstung aus, und sie hatten alles dabei: Propangaskocher, Taucherbrillen, Wanderschuhe, aufblasbare Delfine, tragbare Radios, Kisten voll Werkzeug. "Da gab es keine geteilte Nation." Die Polen bestaunten den Perfektionismus. Manchmal brüllten sie den Deutschen ein betrunkenes "Heil Hitler!" zu. Solche Erlebnisse merkt sich ein Halbwüchsiger. Becker beschreibt auch andere Prägungen, die folkloristisch-katholische und die kommunistische. Doch er sei wütend gewesen auf den Heiland und Marx. Beide schienen sich nicht an ihre Versprechen zu halten. Die Desillusionierung habe ihn wachgerüttelt. "Das Naturell des Polen ist rebellisch."

Mit knapp 17 folgte er den Eltern 1985 ins bundesdeutsche Exil. Das Wort Spätaussiedler lehnt er ab. "Es ist einfach schlechtes Deutsch." Die Sprache machte ihm anfangs Mühe, sie sei ein Zungenbrecher für Slawen. "Ein halbes Jahr lang war ich ein stummer Fisch." Inzwischen sind fast 20 Bücher von ihm auf Deutsch erschienen, Gedichte, Romane, Essays. Wie er das pralle Erzählen mit philosophischen Exkursen verbindet, macht ihm so schnell keiner nach. Der Dichter Christian Lehnert nennt Artur Becker einen genauen und mehrsprachmächtigen Übersetzer des polnischen Denkens und Empfindens in die deutschen Sprachräume. Er vergleicht die Texte mit Vulkangestein: Immer wieder brechen geschichtliche Krater auf, und aus dem brodelnden Untergrund schießt Magma hervor. Lehnert und Becker diskutieren über Schreibantriebe, Brüche und Identitäten. "Man muss seine Wurzeln nicht ablegen, aber offen sein für das Land, in dem man lebt", sagt Becker. Und fordert dazu auf: "Lasst uns unsere europäische Identität auffrischen! Sie ist so verstaubt."

Nächste Vorlesungen mit Artur Becker am 1. und 22. Oktober um 19.30 Uhr, Zentralbibliothek Dresden.

Dresden bekommt im Herbst eine neue Chamisso-Poetikdozentur. Einwandern in ein anderes Land, eine fremde Sprache - und es dann zu literarischer Meisterschaft in ihr bringen. Diese grenzüberschreitende Leistung reflektierten Autoren bei der Chamisso-Poetikdozentur. Neun Jahre nach ihrem Ende soll es sie nun im Herbst in Dresden wieder geben, wie die Sächsische Akademie der Künste mitteilte. Die erste übernimmt Artur Becker. Drei Vorträge plant er: am 24. September, 1. und 22. Oktober in der Zentralbibliothek im Kulturpalast.

Tomas Gärtner

Sprechen möchte der aus Polen stammende Schriftsteller über Literarisches, Soziologisches, Philosophisches, Publizistisches und Autobiografisches, wie er ankündigte. Erzählen will er auch, wie man sich als Autor zwischen zwei Sprachen bewegt, ein Leben führt "zwischen zwei Stühlen und Völkern".

Geboren ist Artur Becker als Sohn polnisch-deutscher Eltern 1968 in Bartoszyce (Masuren). Als er 17 war, emigrierten seine Eltern mit ihm nach Westdeutschland. Nachdem er schon 1984 erste Gedichte auf Polnisch veröffentlichte, schreibt er seit 1989 nur noch auf Deutsch. Er lebt im niedersächsischen Verden (Aller). Den Stoff für seine Literatur indes bezieht er aus den Masuren, aus den vielen Geschichten, die die Leute in dieser Gegend erzählen.

"Drang nach Osten" (Verlag weissbooks) heißt sein jüngstes Buch, sein achtzehntes. In dem Roman geht es um einen in Bremen lebenden Historiker, der über seine Großeltern in den Masuren schreiben will. Die Verbrechen der Nachkriegszeit bewegen ihn, woher das Böse kommt und welchen Preis die Freiheit hat.

Manche sagen über Artur Becker, er schreibe polnische Literatur auf Deutsch. Er selbst hat sich einmal als "Kosmopole" bezeichnet. Tatsächlich beschäftigte er sich zunächst gründlich mit polnischer Literatur, wie er sich erinnert. "Ich musste für mich erst einmal ein Zuhause definieren." In Deutschland? Oder in einem Polen, das nur in seiner Vorstellung existiert? Leben in der Fremde, das bedeutet für Becker vor allem: "Du weißt als Autor plötzlich, du wirst mit dieser Identitätsfrage niemals fertig werden. Du wirst dich ständig fragen: Warum habe ich diese Identität? Welchen Einfluss hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf diese Identität?"

Die Dozentur ist eine literarische Auszeichnung. Wer sie hält, darüber hat eine Jury aus Vertretern der Sächsischen Akademie der Künste und des Dresdner Vereins "Bildung und Gesellschaft" entschieden. Der verantwortet auch den Chamisso-Preis/Hellerau, der seit 2018 vergeben wird. Ausgezeichnet werden Autorinnen und Autoren, die aus der Erfahrung eines Sprach- oder Kulturwechsels heraus in ihren Werken Fragen der modernen, pluralen und globalisierten Welt reflektieren, wie es in der Ausschreibung heißt. Es geht um all die Themen, die aus der Erfahrung zwischen den Sprachen, zwischen Kulturen und der Geschichte unterschiedlicher Sprachräume entstehen.

Vorläufer war die "Dresdner Chamisso-Poetikdozentur für Migrantenliteratur" der TU Dresden und der Robert Bosch Stiftung. Gehalten hatten die seit 2000 insgesamt zehn Schriftsteller, alle Adelbert-von-Chamisso-Preisträger. Begleitet war der Preis von Diskussionen darüber, ob er Autoren auf das Moment des Migrantischen reduziere. 2017 stellte die Bosch-Stiftung die Vergabe ein. Namensgeber des alten und neuen Chamisso-Preises und der Poetikdozentur ist Adelbert von Chamisso (1781 - 1838), ein deutscher Dichter französischer Herkunft.

 

Perfekte Grenzgängerei: Artur Becker beginnt die Chamisso-Poetikdozentur in Dresden neu.

Karin Großmann

Polnische Leser halten ihn für einen polnischen Autor, der auch deutsch schreibt. Germanisten zählen ihn zur deutschsprachigen Literatur. Artur Becker gehört zu den Grenzgängern zwischen zwei Ländern, zwei Sprachen und zwei Kulturen. Aus dieser Erfahrung schlägt er literarische Funken. Er wurde 1968 in Bartoszyce in den Masuren geboren und siedelte mit 16 Jahren in die Bundesrepublik über. In Romanen, Gedichten, Erzählungen und Essays kreist er sein doppeltes Leben immer neu ein. Oft steigt er tief in die jüngere deutsch-polnische Geschichte hinab. „Wer sind wir?“, das ist für ihn eine grundsätzliche Frage der Literatur. Die Antworten dürfe man nicht der Philosophie oder der Soziologie überlassen.

Die Zerrissenheit des Europäers

Mit seiner Biografie und seinem umfangreichen Werk ist der Schriftsteller ein hervorragender Kandidat für die Chamisso-Poetikdozentur in Dresden. Eine Vorlesungsreihe unter diesem Namen gab es schon mal zwischen 2005 und 2011. Sie wurde von der Robert Bosch Stiftung mitfinanziert und vom Mitteleuropazentrum der TU Dresden geleitet. Jetzt wird sie wiederbelebt in einer Kooperation zwischen der Sächsischen Akademie der Künste und dem Verein Bildung und Gesellschaft. Mit der Dozentur sollen Autorinnen und Autoren ausgezeichnet werden, „die aus ihrer persönlichen Erfahrung eines Sprach- oder Kulturwechsels heraus mit eigenständigen Beiträgen die Fragen der modernen, pluralen und globalisierten Welt reflektieren“. So heißt es in einer Mitteilung der Akademie vom Montag. Der Namensgeber Adelbert von Chamisso steht selbst für mehrfache Grenzgängerei. Er wurde in Frankreich geboren und lebte in Deutschland, erforschte die Natur und schrieb Gedichte, stammte aus einem alten Adelsgeschlecht und vertrat moderne, liberale Ideen. Am bekanntesten wurde er mit „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“.

Und so, wie Chamisso dort das Realistische mit dem Mystischen verbindet, tut es auch Artur Becker, wenn er etwa in seinem Kindheitsroman „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang“ dem Helden einen altklugen Zwilling in den Bauch hext oder ein sprechendes Messer herbeizitiert. „Die Lebendigkeit der Dinge war mir schon als Kind selbstverständlich“, sagte Becker in einem SZ-Interview. Deutsch nennt er seine Dienstsprache. „Das Land, in dem ich aufwuchs, gibt es nicht mehr. Mein Polen ist 1989 untergegangen.“ Er sagt auch: „Schriftsteller haben immer eine Rechnung offen mit dem Land, aus dem sie kommen.“

Artur Becker sieht in der neuen Dozentur eine wichtige Plattform für die Auseinandersetzung „angesichts der Zerrissenheit des heutigen Europäers und der Stereotype, die seit Jahren durch populistische und nationalbetonte Bewegungen verbreitet werden“. Vorerst sind drei Vorlesungen für den 24. September, 1. und 22. Oktober in der Dresdner Zentralbibliothek geplant. Sie sollen als Video-Livestream übertragen und publiziert werden. Nach dem neuen Chamisso- Preis/Hellerau ist der Dichter nun zweifach in Dresden vertreten.

Thema: Artikel SZ "Mein Polen ist 1989 untergegangen"
Quelle: Sächsische Zeitung 16.06.2020/ Karin Grossmann

 

Kontrovers diskutiert haben am Freitag, den 10. Januar 2020 in der Sächsischen Akademie der Künste die Autoren Ingo Schulze, Wilhelm Bartsch, Kerstin Hensel und Clemens Meyer über die Thesen von Yana Milev zur Spaltung von Ost und West.

Karin Großmann

Der Einigungsvertrag war ein Abwicklungsvertrag für alle Bereiche des Lebens im Osten. Innerhalb von drei Monaten wurden hier mehr als dreißig Gesetzespakete implantiert. Die Betroffenen hatten keine Chance, ein Wort mitzureden. Die Neubürger wurden enteignet, entrechtet, marginalisiert und damit als untauglich für höhere Positionen erklärt. Das erfüllt den Tatbestand der Kulturkatastrophe, wie sie sonst nur nach einem Krieg zu erleben ist.

Mit solchen steilen Thesen begann der Freitagabend in der Sächsischen Akademie der Künste. Am Rednerpult stand Yana Milev, in den Achtzigern Künstlerin im Leipziger Untergrund, in den Neunzigern Studentin für Bühnenbild und Kostüm in Dresden, nun habilitierte Wissenschaftlerin in der Schweiz. Seit drei Jahren erforscht sie die Ungleichbehandlung der Ostdeutschen nach der Vereinigung 1990.

Sie spricht jedoch nicht von Vereinigung, sondern von Anschluss. Die Reformziele der Runden Tische seien ignoriert worden. "Es obsiegte eine Elite-Demokratie West gegen eine Basisdemokratie Ost." Die Rednerin belegt ihre Thesen mit Fakten, wenn es etwa um die Folgen solcher Verwerfungen geht. Sie zitiert beispielsweise eine Studie zum Suizid. Danach waren ostdeutsche Männer zwischen 50 und 54 nach 1990 besonders gefährdet. 200 von 100.000 nahmen sich das Leben - im Vergleich zu etwa 80 westdeutschen Männern. Als Ursachen für den "Tod aus Verzweiflung" nennt Yana Milev Arbeitslosigkeit, sozialen Abstieg, Sinnzusammenbruch. Nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur oder beim Militär würden heute von Ostdeutschen besetzt. Weniger als sechs Prozent des Produktiv- und Immobilienvermögens sei nach 1990 an Ostdeutsche gegangen, neun Prozent an ausländische Bewerber und 85 Prozent an westdeutsche.

Der Moderator des Abends, der Literaturwissenschaftler Peter Geist, spricht erregt von einer Inbesitznahme des Ostens, von der Implementierung verrotteter westdeutscher Strukturen auf dem Gebiet der DDR. Geist und Milev hätten sicher noch eine Weile so weitergemacht unter Beifall und Widerspruch aus dem Publikum - wäre dieses Publikum nicht vor allem wegen der renommierten Schriftsteller auf dem Podium gekommen.

Kerstin Hensel fragt: "Was hätten wir denn 1989 anders machen können?" Sie stammt aus Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, lehrt an der Hochschule für Schauspielkunst in Berlin, schreibt Lyrik und Prosa und bringt im März eine neue Novelle heraus. "Ich möchte Geschichten von einzelnen Menschen erzählen, so lassen sich die Ereignisse differenzierter darstellen als durch Fakten." Sie habe sich nie als Vertriebene im eigenen Land gefühlt.

Der Hallenser Autor Wilhelm Bartsch gibt zu bedenken, dass es keine Demokratie gewesen sein kann, die einen ganzen Bevölkerungsteil entmündigte und entrechtete. "Es ist zum Gruseln." Die Politik müsse wieder mehr zum bestimmenden Akteur werden und dürfe nicht der Ökonomie das Feld überlassen. Bartsch veröffentlicht Gedichte und historische Romane wie zuletzt "Meckels Messerzüge". Er plädiert dafür, die hiesigen Nachwende-Ereignisse im Zusammenhang mit anderen in Osteuropa zu betrachten. "Da sind wir noch glimpflich davongekommen."

Auch der aus Dresden gebürtige Schriftsteller Ingo Schulze will den Blick weiten. Mit dem Ende der DDR gerieten andere linke Projekte in Verruf, meint er und bringt dafür Beispiele aus dem Westen des Landes wie aus Brasilien. Die Ost-West-Perspektive sollte eingearbeitet werden in die Konflikte zwischen Unten und Oben, so Schulze, "damit man die Linien klarer sieht". Er hielt 2012 eine viel beachtete Dresdner Rede "Wider die marktkonforme Demokratie". Das Staatsschauspiel bringt demnächst seinen Roman "Peter Holtz" auf die Bühne. Manches hat der Verfasser mit seinem naiven Helden gemeinsam: "Ich war für ein ganz anderes Land als das, was dann kam. Es schien mir selbstverständlich, dass etwas völlig Neues entstehen würde." Aber der Kapitalismus habe so reagiert, wie man das hier in der Schule gelernt habe. "Die Ostdeutschen haben es nicht geschafft, erst mal unter sich zu klären, wohin die Reise gehen soll. Wir haben uns etwas aufschwatzen lassen."

Der Leipziger Autor Clemens Meyer spitzt die These noch zu: "Das Schaf ging freiwillig zur Schlachtbank. Tausende jubelten Helmut Kohl zu, als er blühende Landschaften versprach." Clemens Meyer hat kürzlich für einen "Tatort" mit Ulrich Tukur das Drehbuch geschrieben und arbeitet nun für einen "Polizeiruf 110". Bekannt wurde er mit dem Roman "Als wir träumten" über eine Jugendclique im Leipzig der Nachwendezeit. "Der Osten darf nicht vergessen, sich an die eigene Nase zu fassen", sagt Meyer. "Die Dämonen wurden auch hier gezüchtet." Doch Rassismus und Antisemitismus seien unter den Teppich gekehrt worden.

Die Diskussion geht in kleinen Kreisen nach der Veranstaltung weiter. Ingo Schulze hat recht, wenn er sagt, dass auch nach 30 Jahren nichts abgehakt ist und vorbei. Die Entscheidungen von damals beeinflussen das Leben von heute.
 

Kontrovers diskutiert haben am Freitag, den 10. Januar 2020 in der Sächsischen Akademie der Künste die Autoren Ingo Schulze, Wilhelm Bartsch, Kerstin Hensel und Clemens Meyer über die Thesen von Yana Milev zur Spaltung von Ost und West.

Tomas Gärtner

Wunden jedenfalls scheint die Zeit nicht geheilt zu haben. Ihr Auftaktpodium im 30. Jahr der deutschen Einheit inszenierte die Sächsische Akademie der Künste im überfüllten Veranstaltungsraum in Dresden als kollektive Traumatherapie. Als Analytikerin hatten sich Mitglieder der Klasse Literatur Yana Milev geholt, Jahrgang 1964 [Korrektur: 1969], in den Achtzigern Konzeptkünstlerin in der Leipziger [Korrektur: der Dresdner] Underground-Szene, hier jedoch in ihrer zweiten Profession als Kulturphilosophin und Soziologin. Für sie ist der Befund eindeutig: Die deutsche Wiedervereinigung 1990 war ein "Anschluss", eine "Kulturkatastrophe", "kulturelle Kolonisierung", DDR-Bürger wurden zu "Exil-Ostdeutschen". In einem geharnischten Beitrag für die Wochenzeitung "Der Freitag" (Nr. 41/2019, www.freitag.de) brachte sie ihre Anamnese auf den Punkt: "Die Spaltung von Ost und West, die uns heute beschäftigt, ist das Resultat von Abwicklung und Abriss der Arbeits- und Lebensräume sowie eines verordneten Vergessens, das die DDR-sozialisierten Werte, Einstellungen, Kompetenzen und Kapitalsorten ab den 1990er Jahren aus den Institutionen der BRD ausgrenzt."

Sie belegt das mit der Masse an Gesetzeserlassen, die 1989/90 binnen kürzester Zeit im Osten durchgepeitscht wurden. Ein Referendum sei ausgeschlossen, tausende Kultureinrichtungen seien liquidiert, Reformziele und der alternative Verfassungsentwurf des Runden Tisches beiseite gefegt worden. Sie spricht von sechs Millionen Arbeitslosen bei neun Millionen Erwerbstätigen, von der Umwandlung einer Industrieregion in ein Entwicklungsland, von einer Sterberate, die unter ostdeutschen Männern doppelt so hoch gewesen sei wie im Westen. Kurzum: die Ostdeutschen - erst angeschlossen, dann ausgeschlossen. Und demonstrierten die Gedemütigten dann auf der Straße, wie etwa in Chemnitz 2018, nachdem ein Mann beim Stadtfest mutmaßlich von einem Migranten erstochen wurde, würden sie von westdeutsch dominierten Medien - von "Staatsmedien" schreibt Yana Milev in ihrem Text im "Freitag" - als Rassisten verunglimpft. Alles zusammen bezeichnet sie als "Totalität der liberalen Demokratie und normativen Populismus der liberalen Mitte". Einmal in Schwung, heizt sie mit kraftvollen Wörtern ein, spricht von "Gehirnwäsche" und "Blitzkrieg". Bis eine Frau im Publikum herausplatzt: "unwissenschaftlich" und "demagogisch" sei das. Doch Debatten mit den Zuhörern sind nicht vorgesehen.

Literaturwissenschaftler Peter Geist, dem Moderator, gefriert nach eigenem Bekunden das Blut in den Adern angesichts der schlüssig dargestellten "Inbesitznahme der DDR". Überhaupt sei es 1989/90 vordringlich darum gegangen, ein Übergreifen der ostdeutschen Revolution auf die alte BRD zu verhindern, Ziel sei vielmehr die "Implementierung verrotteter BRD-Strukturen" gewesen. Er sah sich an die Zeit erinnert, als Professoren aus Bayern ihn wie andere DDR-Kollegen aus der Leipziger Universität vertrieben.

Angesichts von solchem Furor brachte Dichterin Kerstin Hensel kritische Fragen sehr vorsichtig vor: "Was hätten wir denn 1989 anders machen können?" Und wer eigentlich sei "wir"? In keinem der von Yana Milev aufgezogenen Schubkästen vermochte sie sich selbst zu finden; ein wenig fehl am Platze in dieser therapeutischen Patientenrunde. "Ich habe keine Erfahrung des Entwurzeltseins und Vertriebenseins." Womöglich sei das Ganze doch differenzierter. Sie bevorzuge Geschichten von einzelnen Menschen, in denen man das besser erzählen könne. Clemens Meyer, der sein Unbehagen kaum verbergen konnte, wandte ein, ihm fehle in der Darstellung, dass sich der Osten an die eigene Nase fassen müsse. "Der Dämon ist zum großen Teil hier gezüchtet worden." Rassismus und Verrohung habe es bereits in der DDR gegeben. 1989 sei das Land vergiftet, die Industrie kaputt gewesen. Einfach sei für ihn gar nichts. "Ich brauche Zeit, um über die Dinge nachzudenken, damit ich nicht in Dogmatismus verfalle." Ingo Schulze erinnerte daran, dass der Sieg der "Allianz für Deutschland" (CDU, DSU, DA) 1990 von einer Mehrheit der Ostdeutschen gewollt gewesen sei, ein Wahlakt. Für ihn verlaufe die entscheidende Linie nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Oben und Unten. Dichter Wilhelm Bartsch aus Halle erinnerte sich, wie schlimm Leuna vor 1990 aussah, doch danach einiges gerettet worden sei. Um dann kräftig auf die "Linken" zu schimpfen, die auf die Seite der Kapitalisten gewechselt seien, sozialen Ausgleich als ihre Hauptsache vergessen hätten und sich statt dessen in Nebensachen wie "gendergerechter Sprache" verzettelten. Politik und Demokratie müssten wieder das Primat vor der Ökonomie bekommen. Das sah Ingo Schulze ähnlich: "Wir müssen über die Besitzverhältnisse reden." Immer effizienter Waren zu produzieren, noch mehr rauszuholen, sei nicht weiter zu machen. "Dafür brauchen wir unsere Erfahrung von 1989/90."

2019

Welche Strahlkraft haben die Gesellschafts- und Utopiemodelle 1989/90 in den ost- und mitteleuropäischen Ländern heute noch? Darüber diskutierten am 13. Dezember 2019 der Theaterwissenschaftler Ondřej Černý (Prag), der Autor György Dalos (Budapest/Berlin) und der Autor und Übersetzer Jurko Prochasko (Lemberg/Lviv, Ukraine).

Tomas Gärtner

Die revolutionären Gesellschaftsentwürfe von 1989/90 hatten ihre Zeit. Dann trat Ernüchterung ein. Dennoch, verabschieden wollen ostmitteleuropäische Intellektuelle die Utopien nicht. Nur in Gestalt und Inhalt haben sich ihre großen Entwürfe verändert. „Die Rettung des Klimas hat das Zeug, zu einer neuen gemeinsamen Utopie zu werden“, meint Jurko Prochasko, Autor und Übersetzer im ukrainischen Lviv (Lemberg). Dramaturg Ondřej Černý, Leiter der Tschechischen Zentren, sieht ebenfalls eine große Chance in dieser globalen Bewegung.

Der Einsatz für die Klimawende könne alle weiterbringen. „Dieses gemeinsame Streben könnte uns auch eine neue Spiritualität geben.“ Dass Klimaveränderungen mit Wachstum und wirtschaftlicher Entwicklung zusammenhängen, nehme keine Regierung ernst, konstatiert der ungarische Schriftsteller György Dalos. Doch junge Leute stellten sich auf den Straßen mafiotischen Machtpolitikern entgegen.

Die Intellektuellen aus den einst sozialistischen Ländern verstehen sich als leidenschaftliche Europäer. Alle drei können sich fließend in differenzierendem Deutsch mit Kilian Kirchgeßner verständigen, der als Journalist von Prag aus für Radio, Zeitungen und Zeitschriften berichtet und das Podium in der Utopien-ausstellung in der Motorenhalle des riesa efau ausgezeichnet moderiert.

Das sichere Bewusstsein, zu Europa zu gehören, gehe in der Tschechischen Republik einher mit einer eigenwilligen Form des Isolationismus, sagt Ondřej Černý. „Wir müssen nicht dafür kämpfen.“ Daraus habe sich eine Art Faulheit entwickelt. „Das ist eine Krankheit der tschechischen Gesellschaft geblieben.“ Hinzu komme ein Problem seit den frühen 1990er Jahren: Die Intellektuellen hätten kein kritisches Denken gegenüber der Politik entwickelt, weil sie ja nach der „Samtenen Revolution“ selbst das Establishment stellten.

György Dalos sieht das Verdienst der revolutionären Intellektuellen in Ungarn vor allem in moralischen Werten und hofft, dass sich wenigstens etwas davon erhält. Denn die eigentliche revolutionäre Veränderung der zurückliegenden Jahre sei eine umfassende Privatisierung gewesen. Sie habe Platz geschaffen für Politiker vom Schlage eines Viktor Orbán in Ungarn oder Wladimir Putin in Russland. Daher äußert Dalos die Hoffnung, dass die Sehnsucht, zur Europäischen Union zu gehören, nicht nur materielle Motive hat, sondern auch geistige und moralische Werte dahinterstehen.

Für Jurko Prochasko hatte die politische Bewegung der kritischen Intellektuellen in der Ukraine, die ihre Initialzündung aus den Reformen Michail Gorbatschows erhielt, im Wesentlichen eine Richtung: als eigener Nationalstaat weg von der Sowjetunion, hin nach Mitteleuropa. Verhängnisvoll ist nach seiner Ansicht, dass die Ukraine die völlige Loslösung von Russland nicht schaffte, bevor es unter Putin wieder stark wurde. „Ich habe die Mitteleuropäer immer um ihre samtene oder friedliche Revolution beneidet“, sagt Prochasko. Eine solche Zäsur fehle in der Ukraine. „Stattdessen haben wir eine schlechte Zähigkeit gehabt.“ Daran hätten auch die Orange Revolution und der Euromaidan wenig geändert. Stattdessen habe die Privatisierung zu großer Macht von Oligarchen geführt. Gegen diese müssten sie heute vor allem kämpfen. So sieht er seine Utopie in einem „ausgewogenen Europa, das wenig Ressentiments produziert, das Radikalisierung und Polarisierung als wesentliche Gefahr erkennt“. Mitteleuropäer – das ist für ihn jemand, der die ausgleichende Mitte zwischen den Extremen sucht.

 

 

Über welche Gesellschafts- und Utopiemodelle haben Schriftsteller und Künstler 1989/90 in Ostdeutschland nachgedacht und diskutiert? Jörg Bochow, Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden und die Autoren Uwe Kolbe (Dresden) und Wilhelm Bartsch (Halle/Saale) moderiert von Literaturredakteur Michael Hametner (Leipzig) diskutieren über ihre Utopien aus den Jahren 1989/90 und was davon heute noch lebendig ist.

Karin Großmann

Sie lasen einander ihre Gedichte vor, tranken Erlauer Stierblut und träumten von Freiheit. So sahen Revolutionen in der Künstlerszene der DDR aus. Man war dagegen, und das mit ganzer Leidenschaft. Konkrete politische Projekte entwickelten sich daraus selten. So beschreibt es der Schriftsteller Uwe Kolbe in einer Diskussion am Mittwochabend in Dresden. Spätestens mit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 sei ihm der letzte Klacks einer gesellschaftlichen Utopie abhandengekommen. Viele dachten dann nicht mehr über Veränderungen im Land nach, sondern über das Verlassen des Landes.

Das eigene Leben wird museal Jörg Bochow, Chefdramaturg am Staatsschauspiel, hat anderes in Erinnerung, etwa die sechsstündige Castorf-Inszenierung von Heiner Müllers Stück "Der Bau" 1986 in Chemnitz oder die sensationelle Aufführung von Müllers "Umsiedlerin" in Dresden. "Es gab schon damals Versuche, neue Formen von Kunst zu etablieren", sagt Bochow. Er erzählt von Schauspielern und Musikern, die innerhalb und außerhalb staatlicher Strukturen etwas Eigenständiges, Widerständiges probierten. Dazu zählten die Dramatische Brigade in Chemnitz, das Ensemble Zinnober in Berlin oder in Dresden die Gruppe Schicht - alle mehr oder weniger skeptisch beobachtet von den Sachwaltern der wahren Lehre.

Mit einigem Erschrecken, sagt Uwe Kolbe, habe er die Theaterstühle der Zinnober-Leute Anfang der Neunzigerjahre im Historischen Museum Berlin entdeckt - "das war wie die Musealisierung des eigenen Lebens".

Der Dichter Uwe Kolbe, der Dramaturg Jörg Bochow und der Hallenser Schriftsteller Wilhelm Bartsch als Dritter in der Runde kommen an diesem Abend bei der Sächsischen Akademie der Künste selten auf einen Nenner. Das macht nichts. Die jüngere Geschichte ist noch nicht abgehangen, sie ist noch nicht zu Merksätzen glattgebügelt. Statt allgemeiner Wahrheiten gibt es spannende, unerwartete, individuelle Einsichten und Geschichten. Wer in solchen Runden "wir" sagt, muss mit Widerspruch rechnen. So ist das unter Zeitzeugen. Sei still, Opa erzählt vom Krieg.

Auch den Fall der Mauer hat jeder anders erlebt. Bochow findet es noch immer erstaunlich, wie Machtstrukturen plötzlich zusammenbrachen, die doch für die Ewigkeit gemacht zu sein schienen. Bartsch berichtet, wie er in der Gruppe Neues Forum an Runden Tischen über die nächsten konkreten Schritte diskutierte, "das war der Sturz einer sich sozialistisch nennenden kapitalistischen Partei". Kolbe unterrichtete in jenem Herbst an einer Uni in Texas, referierte über Zensur in der DDR, las das Neue Deutschland mit einer Woche Verspätung und hörte seine Mutter am 9. November '89 in Berlin das Wort der Stunde ins Telefon rufen: Wahnsinn! Schon eine Woche später habe es auf einer Shoppingmall in Texas Mauerstückchen in der Plastikbox mit Echtheitszertifikat gegeben. "Und ich dachte: tolle Geschäftsidee." Sein Visum, sagt er, hielt noch drei Jahre, länger als die DDR.

Und dann? Was blieb von den Träumen nach endlosen Rotweinfeten, was blieb von der heißen Aufbruchstimmung des Wendeherbstes, von den hohen Erwartungen? Hätten sich nicht die Schubkästen öffnen müssen für all die großartigen Manuskripte, die der Zensor zurückgewiesen oder gar nicht erst erblickt hatte? Mit welchen tollkühnen Plänen stürzten sich die Künstler in die Unabhängigkeit, die sie so dringend erhofft hatten?

Und da wird es dünn. Da kommt nicht viel. Da war wohl die Fantasie vor allem für die Organisation des Alltags gefragt. Bochow spricht von finanziellen Zwängen, von Ankommen und Sichselberfinden. "Da gab es auch eine große Desillusionierung." Wilhelm Bartsch sagt: "Die DDR war weg. Der Gegner war weg. Da habe ich Tabula rasa gemacht. Jeder Künstler musste erst mal sehen, wie er davonkommt." Uwe Kolbe beschreibt den Neustart als ein "Stolpern in die Freiheit". Das dürfte mancher ähnlich erlebt haben.

Kein Bedarf an Leitbildern Aber haben sich nicht wenigstens einige Mikro-Utopien herüberretten lassen?, fragt Michael Hametner als Moderator immer wieder nach. Antwort: Falls es sie gab, hat sich das Publikum nicht dafür interessiert. Es hat nicht nur ostdeutsche Kekssorten vorübergehend abgewählt, sondern auch ostdeutsche Kunst.

Heute, und darin scheinen sich die drei Diskutanten dann doch einig zu sein, besteht kein Bedarf an hehren gesellschaftlichen Leitbildern. Das hat schon einmal nicht funktioniert. "Der ganze Klops Utopie ist mit dem 20. Jahrhundert begraben", meint Uwe Kolbe. "Wir brauchen sehr reale Utopien", sagt Wilhelm Bartsch und nennt das bedingungslose Grundeinkommen als Beispiel. Jörg Bochow: "Wir können uns querlegen, Entscheidungen infrage stellen und Mehrheiten organisieren, denn wir haben eine Erfahrung gemacht: dass Dinge änderbar sind."

Zur Verleihung des Semperpreises 2019 der Sächsischen Akademie der Künste an den Düsseldorfer Architekten Christoph Ingenhoven

Die Sächsische Akademie der Künste hat am 26.09.2019 den Semperpreis 2019 an den Düsseldorfer Architekten Christoph Ingenhoven verliehen. Es sprachen Holk Freytag, Präsident der Sächsischen Akademie der Künste; Anne Katrin Bohle, Erste Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (Videobotschaft); der Architekt Prof. Benedikt Schulz (Mitglied der Jury); der Architekt und Ingenieur Prof. Dr. Werner Sobek (Laudator) und der Preisträger. Ort der Preisverleihung war das Oktogon der Hochschule für Bildende Künste Dresden.

Die Preisverleihung war geprägt von den großen Fragen danach, was Architekten und Ingenieure zu tun haben, wenn es um die Zukunft und nichts weniger als den Erhalt unseres Planeten geht. „Keine Kunstgattung greift so direkt ins Leben der Menschen, wie die Baukunst. Und deshalb ist uns, den Mitgliedern der Sächsischen Akademie der Künste, dieser Preis so wichtig“, so eröffnete Holk Freytag, Präsident der Sächsischen Akademie der Künste, den Festakt am 26. September 2019 im Oktogon der Hochschule für Bildende Künste Dresden.

In ihrer Videobotschaft bezeichnete Anne Katrin Bohle, Erste Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, den Preisträger als einen Architekten, der „wie kaum ein anderer deutscher Architekt mit seinem Team für eine nachhaltige, ökologische Architektur steht, die mit hoher Kunst architektonisch auf die drängenden Fragen der Gegenwart und der nahen Zukunft antworten will.“ Sie nannte den Semperpreis aktueller denn je. „Wir brauchen diese guten Beispiele und Initiativen wie diese“

Den einzigen Weg zur Rettung des Planeten sieht der Preisträger Christoph Ingenhoven in der vorbehaltlosen Zusammenarbeit aller Professionen. Er erklärte am Nachmittag gegenüber der Presse. „Es hat sich eine Haltung herausgebildet, die ich nicht verstehe, und die nicht notwendig ist: Das ist dieses Sich-Zurückziehen in Fachrichtungen und in Spezialisierungen.“ Laudator Werner Sobek sprach von Christoph Ingenhoven als einer Persönlichkeit, „dessen gesamtes berufliches Schaffen von Anfang an durch ein unablässiges Ringen um eine andere Architektur, um eine vor der Zukunft verantwortbare Architektur gekennzeichnet ist - und um eine Architektur, die die Menschen umhüllt und sie fröhlich macht.“

Die Sächsische Akademie der Künste hat ihre Mitglieder gefragt, was sie von der Zukunft erwarten. Sie haben mit Kunstwerken geantwortet. Zur Ausstellung "Auch das ist Zukunft" in der Sächsischen Akademie der Künste am Palaisplatz 3 mit Werken von Lutz Dammbeck, Hartwig Ebersbach, Wieland Förster, Peter Herrmann, Gerda Lepke, Walter Libuda, Ulrich Lindner, Dóra Maurer, Maix Mayer, Michael Morgner, Osmar Osten, Sophia Schama, Jürgen Schön, Thea Richter und Max Uhlig; kuratiert von Jürgen Müller, Jutta Penndorf und Jürgen Schön.

Birgit Grimm

Wenn man Künstler bittet, sich zu einem Thema zu äußern, darf man mit überraschenden Reaktionen rechnen. Die Sächsische Akademie der Künste fragte bei den dreißig Mitgliedern der Klasse Bildende Kunst nach Werken zum Thema Zukunft. Zweiundzwanzig haben geantwortet und Arbeiten eingesandt, die unter dem Titel "Auch das ist Zukunft" in den Räumen der Akademie ausgestellt sind. Offenbar hatten sie alle tatsächlich etwas Zukunftsträchtiges im Atelier. Denn: "Die Zukunft wird schon gedacht, besungen, gedichtet, gemalt, bevor sie sich ereignet." Das schreibt Akademiemitglied Wolfgang Holler, einst Direktor des Dresdner Kupferstich-Kabinetts, jetzt Generaldirektor der Museen der Klassik-Stiftung Weimar. Holler hat über die Zukunft der Erinnerung nachgedacht und meint: "Die Vergangenheit ist keineswegs ein Ort des geschichtlichen Vergessens, sondern stets ein Ort des Entdeckens, bietet Aussicht auf neue Zukunft." Zukunft ohne Erinnerung sei unmöglich, schlussfolgert er.

Die in Technik und Motivwahl auf die Vergangenheit verweisenden Fotografien von Ulrich Lindner sind auf ihre Art auch düstere Visionen. Ruinen, ein mumifiziertes Tier ... Osmar Osten, dessen Holzschnitte in unmittelbarer Nachbarschaft hängen, betreibt bittere Realsatire mit seinen Holzrissen. "Meine Mutti malt wie Picasso" ist noch das sanftere Statement über eine Gesellschaft, die kulturelle Bildung immer weniger wertschätzt. In Maix Mayers Film "Canyon" geht es um die Großstadt, um Entfremdung in kühler Architektur, um Einsamkeit. Alle sind beschäftigt. Aber womit? Peter Herrmann rückt dem Großstadtmief auf ironische Art zu Leibe. In seinen Bildern wird gegrillt. Gesund sieht anders aus. Ist die Alternative dazu wirklich ein künstliches Paradies? Herrmann malt es als Käfig, der an eine tropische Insel unterm gewölbten Glasdach erinnert.

Gerda Lepke zeigt einen "Wiesenausschnitt". Eine giftgrüne, undurchdringliche Wucherung auf schwarzem Grund. Das ist keine jener saftigen Wildblumenwiesen, in der man gern auf dem Rücken liegt und die Wolken beobachtet.

Der Künstler Jürgen Schön hat mit dem Kunsthistoriker Jürgen Müller die Arbeiten gekonnt in den Räumen der Akademie platziert. Schön arbeitet auf und mit Papier, aber produziert keine Flachware. Er denkt räumlich, selbst wenn er mit Bleistift oder Permanentmaker Architekturformen zeichnet.

Diese Ausstellung zeigt, wie sich die Akademie versteht: Nicht als intellektueller Debattierklub, sondern als Institution, die sich einbringt in gesellschaftliche Fragestellungen, künstlerischen Experimenten gegenüber aufgeschlossen und dabei darauf bedacht ist, den Horizont zu erweitern. Mehrere, sehr unterschiedliche Perspektiven aus Ost und West sind in der neuen Publikation der Akademie versammelt, die sich mit dem Jahr 1968 beschäftigt. Das Buch "Mein '68. Aufbruch nach Europa" erschien im Sandstein Verlag und kostet 19,68 Euro.

Alexander Keuk

Zweiter Tag der TONLAGEN – Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik in Hellerau

Nach dem Eröffnungskonzert am Donnerstagabend kam am Freitag erstmalig echte Festivalstimmung im Festspielhaus Hellerau auf, denn wer wollte, konnte satte fünf Stunden Konzerte erleben, Installationen entdecken oder im offenen Haus anderen Besuchern begegnen und ein Glas Wein genießen. Das Motto #stimme war in den ersten beiden Veranstaltungen unterschiedlich gedeutet und umgesetzt. Eine audiovisuelle Installation mit Performance von Helmut Oehring im Nancy-Spero-Saal hinterfragte das Wort eigentlich schon selbst. Hören und Nichthören ebenso wie Sehen, Erkennen und ein ganzheitliches Begreifen dessen, was da geboten wurde – das ging alles miteinander in Verbindung bei „EURYDIKE? ICH/SIE – I see. volume 1“. Es ist ein so genannter dokumentarpoetischer Zyklus, den Oehring mit diesem ersten zur Aufführung entwickelten Fragmennt begonnen hat und der sich in verschiedenen kompositorischen Formen vor allem mit der weiblichen Perspektive der Eurydice-Figur auseinandersetzt, einer Gestalt, die als Kunstfigur und Opernbasis durch alle Zeiten wabert, aber oft eben auch nur durch die männlich-orphische Partnerbrille betrachtet wurde.

Oehring gibt ihr auf wundersame Weise eine „#stimme“ zurück, holt sie vielleicht für kurze Zeit aus dem Hades hinauf, um zunächst einmal ein noch bedeutungsfreies Hinsehen zu ermöglichen. Es ist faszinierend zu beobachten, dass dieses Sujet, mit dem Oehring zwar schemenhaft visuell, aber in deutlich-bestimmter Komposition des Arrangierten umgeht, sofort berührt. Dafür sorgen auch die drei Performerinnen Kassandra Wedel, Emily Yabe und Mia Carla Oehring, die mit starker Körpersprache diesen auf dem Boden durch den Videobeamer abgesteckten Eurydike-Raum erfahren und mit verdreifachter weiblicher Energie aufladen. Die halbstündige Performance wirkte als Ganzes stark und geschlossen, und sie fand einen beruhigten Ausklang, der aber auch mitteilte: es ist genug für jetzt, aber es ist noch viel zu sagen zu diesem Thema.

Auf der Südempore des Festspielhauses war dann der Leipziger Pianist und Komponist Steffen Schleiermacher zu Gast in einem Gesprächskonzert, das in Kooperation mit der Sächsischen Akademie der Künste stattfand. „Schleiermacher spielt Schlünz und Saunders“ war der lapidare Titel eines dann sich vielen Sichtweisen öffnenden, klanggewaltigen Klavierrezitals. Es ist schon allein schwierig, die Rolle des Soloklaviers in der Literatur des 20. Jahrhunderts zu definieren, doch da braucht es eben genau so einen hellen Kopf wie Schleiermacher, der aus seinem immer Überraschungen bergenden Repertoire sechs Partituren aus dem Regal zieht und damit die Zuhörer in respektvoller wie auch ordentlich zupackender Interpretation begeisterte, gleich ob es sich um die ruppigen „Vier Klavierstücke“ von Friedrich Goldmann, Paul Dessaus möglicherweise als Uraufführung (Schleiermacher: „Dessau hat es komponiert, und die Noten lagen dann da“) erklingende Fantasietta Nr. 2 (1976) oder die mit Kategorien nur schwer zu fassende, sicher mit den beschreibenden Adjektiven brutal und extrem auch nur ansatzweise fassbaren Klaviersonate Nr. 5 der Russin Galina Ustwolskaja handelte. Letztere entzauberte der Pianist im Gespräch einigermaßen und erläuterte die im Stück auffindbare Schostakowitsch-Verehrung der Komponistin: „gefühlt 400x Des“ – die Initialen. In der kompromisslos-angriffslustigen, daher vielleicht aber auch fast zu schnellen Interpretation von Schleiermacher konnte man den Steinbruchaktivitäten auf dem Bechstein zusehen wie einer Dokumentation und sich gleichzeitig fragen, wie nah eine solche Musik („der Soundtrack der Breschnew-Ära„) im Jetzt verortet ist.

Brüche und Abgründe sowie Gegenentwürfe innerhalb eines Stückes waren vielleicht der Faden, der die sechs Beiträge, die in der Entstehung zeitlich rund um die Wende gruppiert waren, durchzog. Da wirkte Schleiermachers Komposition „lilâ“ insofern exotisch, weil er dort eine Idee, die Erfindung eines „eigenen Indiens“ sehr planmäßig bearbeitet hat. Genau um solche Punkte der künstlerischen Beeinflussung und Veränderung durch äußere Ereignisse ging es auch im Gespräch in der Mitte des Konzertes, moderiert vom Musikwissenschaftler Frank Schneider. Während die Komponistin Annette Schlünz auf die diesbezügliche Frage antwortete, es sei ein Zurückziehen in ihrem Werk nach der Wende spürbar – was auch in den sehr atmosphärischen Bildern von ihrem Klavierzyklus „verschattet“ (1991) aufschien, ist es bei Schleiermacher eher ein Haltgeben in festeren Konzepten der Kompositionen. Auffällig war auch, dass das mit Clustern und Nachklängen der Saiten spielende Stück „Shadow“ (2012) der Britin Rebecca Saunders, die in diesem Jahr den renommierten Siemens-Musikpreis erhalten hat, im Gespräch kaum eine Rolle spielte und im Kontext der anderen Werke in der Erinnerung verblasste – vielleicht auch, weil es das offenkundig unpolitischste Stück in der Runde war?

Das Gespräch indes nahm mancherlei skurrile wie auch erhellende Wendung, insbesondere als es über den Nimbus von Lehrer-Schüler-Beziehungen ging und die kategorischen Versuche von Schleiermacher und Schneider, sich von Kategorien fernzuhalten. Das wirkte in der Summe im Dreigestirn fast schon selbst wie ein Musikbeitrag, wobei das spannendste Statement wohl auf die Frage hin, wo die beiden Komponisten sich heute sehen, formuliert wurde: „Ich bin der Mittelpunkt der Welt“, formulierten sowohl Schleiermacher als auch Schlünz. Und geriet man bei mancher Äußerung von Schleiermacher vorher wegen absichtsvoller Doppelbödigkeit ins Schmunzeln, so durfte man hier zustimmen: genau mit diesen vom Zentrum ausgerichteten Antennen ist der inspirative Raum erst möglich.

Alexander Keuk

Seit über dreißig Jahren und im nunmehr 29. Jahrgang gibt es die „Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik“, die Udo Zimmermann 1987 gründete. Sie fanden zunächst in der schon legendären Villa an der Schevenstraße statt und zogen dann in das wiedereröffnete Festspielhaus Hellerau um. Nun, da Carena Schlewitt die Intendanz in Hellerau beim Europäischen Zentrum der Künste übernommen hat, heißen sie „Tage“ auch wieder wie frühe, samt dem beibehaltenen Nachfolgetitel „TONLAGEN“. Das seit 2014 biennal stattfindende Festival findet ab sofort nicht mehr im Herbst, sondern im Frühjahr, an zehn Tagen im März statt, so der neue Programmleiter Musik im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau, der Dramaturg Moritz Lobeck. Der frühlingshafte Aufbruchgedanke zu neuen Musikhorizonten gefällt Lobeck, der jede Menge spannende Projekte in petto hat und natürlich auch schon weiter in Richtung der kommenden Jahre denkt.

Doch gilt gerade im aktuellen Jahrgang dem Blick zurück eine besondere Aufmerksamkeit, denn 30 Jahre nach dem Mauerfall ist der Zeitpunkt gekommen, einmal nach den Entwicklungen und Strömungen der Musik insbesondere in Ostdeutschland zu fragen. Derweil ist ja längst schon die nächste Komponistengeneration aktiv, oder lässt sich dies gar nicht so streng fassen? Lobeck sieht in dieser Hinsicht die Tage der zeitgenössischen Musik als Plattform, musikästhetische Vorgaben oder gar Antworten können und sollen nicht im Vorhinein geliefert werden. Lobeck fragt lieber danach, was uns wichtig ist, welche Musik uns bewegt und wie auch eine gesellschaftliche Relevanz formuliert oder reflektiert wird. Oder umgekehrt: welche Themen sind heute – oder vor 30 Jahren schon? – so brisant oder zeitlos, dass Künstler sich intensiv damit auseinandersetzen, auseinandersetzen müssen. So gelangt man im Gespräch mit Lobeck schnell zu einem der roten Fäden der diesjährigen Tage, nämlich Politischer Musik.

Allerdings in einem weit gefassten Sinne, der künstlerisch offene und gar provokante Statements oder Zustände ebenso zuläßt wie einen Spotlight in einer bestimmten Richtung. Widerstand wäre so ein Spotlight, den gab es 1989 genauso wie heute, und Widerstand ist eine interpretierbare Haltung, je nach Perspektive, Thema und Beteiligten, und hochmusikalisch ist der Begriff mindestens seit Bachs Kontrapunkten. Wenn ein Abend des Ensembles AuditivVokal Dresden daher „Ostgezeter“ benannt ist, so werden viele gleich an den Dresdner Dichter Thomas Rosenlöcher denken – und richtig, der Abend am 16.3. widmet sich poetisch-vokalen Kommentaren unserer Zeit, darunter gleich fünf Uraufführungen – mit Christian Münch und Agnes Ponizil sind hier auch Dresdner Tonschöpfer vertreten, die erfreulicherweise das ganze Festival durchsetzen, da auch der Sächsische Musikbund (mit Wolfgang Heisigs Phonola-Konzert am 16.3. und „Komponieren in Sachsen“ am 20.3. vertreten) und die Sächsische Akademie der Künste in Partnerschaft agieren – durch die hier aktiven Protagonisten bekommt die zeitgenössische Musik nicht nur den abgehoben fremd-elitären Charakter, sondern erscheint direkt bei uns in der Stadt verortet.

Der Schwerpunkt der Ostmoderne – allein dieser Begriff ist sicher wert, diskutiert zu werden – ist beim Festival in Kooperation mit der Konzertreihe „Unerhörtes“ der Sächsischen Landesbibliothek (SLUB) etwa durch Konzerte mit dem Leipziger Pianisten Steffen Schleiermacher oder der Elbland Philharmonie Sachsen mit der Uraufführung der 5. Sinfonie des Dresdner Komponisten  Wilfried Krätzschmar vertreten. Dass der famose Oboist Burkhard Glaetzner im gleichen Konzert das 1979 entstandene Oboenkonzert von Friedrich Goldmann spielt, gehört ebenso zum „Blick zurück“, den Lobeck aber unbedingt mit dem Adrenalin des heutigen Standpunktes angereichert sehen will. Dazu bedarf es der Konfrontation und damit landet man gleich beim nächsten Faden, der schon bei AuditivVokal aufscheint und das Motto für die diesjährigen Tage gibt: „#stimme“ zieht sich nicht nur in direkter Form durch Gastspiele wie die der Sängerinnen und Stimmkünstlerinnen Almut Kühne (Feature Ring, 18.3.) oder Noa Frenkel, die Morton Feldmans „Three Voices“ (15.3.) interpretieren wird. Im weiteren Sinne ist Stimme assoziativ auch als Verstummen, Entäußern denkbar und kann ebenso als vokal-sprachliches Instrument zur Kunstformung wie als natürliches Körperorgan behandelt werden – letzteres dürfte vor allem für Sänger und Studierende beim „Dresdner Stimmforum“ an der Hochschule für Musik interessant sein. Die Kooperationen in Dresden und der Region sind Lobeck bei den Tagen ebenso ein wichtiges Anliegen wie der notwendige, auch unbedingt internationale Blick über den Tellerrand.

Der wiederum – noch mehr Fäden! – gerät genreübergreifend, interdisziplinär. Und die Spielarten zwischen Performance, Installation, Kammermusik und Multimedia sind in den letzten Jahren so fließend geworden, dass damit auch Zuschauer vom Theater einen Zugang zur zeitgenössischen Musik bekommen, wie umgekehrt die Neue-Musik-Freunde sich vom Tanz oder Elektronica begeistern lassen. Die Komponistin Brigitta Muntendorf, am 23.3. in der Aufführung „Keep Quiet and dance“ mit dem Ensemble Garage vertreten, plädiert in einem Essay gar für eine „Community of Practice“, das ist ein verheißungsvoller Ansatz für den Kunstort Hellerau und auch ein Bekenntnis zum performativen Experiment, das unbedingt dorthin gehört. Auch deswegen darf man sich über einen Eröffnungsabend jenseits aller Grenzziehungen mit der palästinensischen Sängerin Kamilya Jubran und dem Schweizer Musiker Werner Hasler freuen.

Uraufführungen von Helmut Oehring und Julia Mihály werden bei den TONLAGEN die interaktive und installative Richtung ansteuern: Oehring erarbeitet zwischen Performance und Installation Momentaufnahmen zum Thema Euridice, während die 1984 geborene Mihály die Startbahn-West-Proteste am Frankfurter Flughafen ab 1979 in ihrer neuen Komposition thematisiert und das Publikum „ins Hüttendorf, ins Epizentrum des Protestes“ setzen will. Wo andere Veranstalter mit Quoten hadern oder die Beteiligung von Künstlerinnen demonstrativ unterstreichen müssen, freut sich Lobeck über die bei den Dresdnern erneut stark vertretenen Komponistinnen, Performerinnen, Sängerinnen mit ihren individuellen #stimmen. Und bei allen Fäden schaffen die Tonlagen auch noch einen Bogen zwischen zwei der interessantesten und auch im besten Sinne kompromisslosesten Pianisten und Komponisten der Gegenwart, nämlich Steffen Schleiermacher (der übrigens auch Musik der diesjährigen Siemens-Preisträgerin Rebecca Saunders im Gepäck hat) zu Beginn der Tage und der 80-jährige US-Amerikaner Frederick Rzewski, der seinen 1975 entstandenen Variationszyklus „The people united will never be defeated“ über das chilenische Widerstandslied von Sergio Ortega zum Abschluss des Festivals selbst spielen wird. Nachtkonzerte und Partys, Gespräche und Dialoge ergänzen das Angebot der vor allem an den beiden Wochenenden prall gefüllten TONLAGEN – für die interessierten Zuhörer lohnen sich die Ermäßigungsangebote einer Hellerau-Card oder ein „Doppelpack“ mit mehreren Veranstaltungen an einem Tag.

Die Sächsische Akademie der Künste stellt Schwerpunkte ihrer Vorhaben für das Jahr 2019 vor, sie positioniert sich für die Zukunft und setzt auf Neue Musik aus Ostdeutschland.

"Deshalb ist das Land gespalten"

Katja Solbrig

Dreißig Jahre nach dem Mauerfall nennt die Sächsische Akademie der Künste ihr Jahresprogramm "Baustelle Zukunft". Und Akademiepräsident Holk Freytag redet auch gar nicht lang um den heißen Brei herum: "30 Jahre nach der Wiedervereinigung müssen eine ganze Reihe von Versäumnissen bilanziert werden, deshalb ist das Land gespalten." Passend dazu ist gerade das Buch "Gespaltenes Land. Brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag?" erschienen. Er dokumentiert das 2018 gemeinsam mit der Stiftung Frauenkirche durchgeführte Symposium und ist der erste Band der Reihe "Baustelle Demokratie". Schriftsteller, Wissenschaftler und Politiker aller im Landtag vertretenen Parteien kommen darin zu Wort.

Von der Baustelle Demokratie zur "Baustelle Dresden", eine Diskussionsreihe in Zusammenarbeit mit dem Dresdner Stadtplanungsamt und dem Zentrum für Baukultur. Am 21. und 28. März werden, moderiert vom renommierten Stadtplaner Jörn Walter, die Entwicklungen seit 1990 und die künftigen Herausforderungen an eine moderne Großstadt diskutiert. Zu einem späteren Zeitpunkt soll es um Städtebau nach der Verkehrswende gehen.

Wie klingt Demokratie? Einen großen Themenschwerpunkt nimmt die Neue Musik aus Ostdeutschland ein. Die habe in den letzten 30 Jahren kaum eine Rolle gespielt und erfahre nun eine Renaissance. Diesem Phänomen geht die Akademie zunächst gemeinsam mit der Sächsischen Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) am 31. Januar in einem prominent besetzten Podiumsgespräch und anschließendem Konzert nach. Werke von Jörg Herchet, Georg Katzer und Wilfried Krätzschmar werden zu hören sein. Richtig vertieft wird das Thema dann während des Tonlagen-Festivals im Festspielhaus Hellerau im März. Neben verschiedenen Gesprächsrunden und Konzerten ist das "Ostgezeter"-Gesprächskonzert sicher ein Höhepunkt. Thomas Rosenlöchers gleichnamiges Werk war Namensgeber. Kompositionen zum Beispiel von Georg Katzer, Friedrich Schenker, Agnes Ponizil werden ebenso zu hören sein wie Texte von Rosenlöcher, Wolfgang Hilbig und Wladimir Majakowski.

Im April widmet sich der Komponistenworkshop "Vox Populi" dem Klang Europas. Komponisten, Musik- und Kulturtheoretiker, das Vokalensemble AuditivVokal und die Dresdner Philharmonie setzen sich wenige Wochen vor der Europawahl mit Musik, Demokratie und Europa auseinander. Das Symposium "Neue Musik unter dem Dach der Kirche" im Herbst thematisiert die Rolle der Kirchenmusikschulen bei der Durchsetzung Neuer Musik und neuer ästhetischer Formen bis 1989. Hierbei arbeitet die Akademie mit der Hochschule für Musik und der Hochschule für Kirchenmusik zusammen.

Natürlich beschäftigt sich die Akademie auch mit dem 100-jährigen Bauhausjubiläum. Besonders spannend dürfte dabei die internationale Konferenz in Bialystok vom 14. bis 16. Mai werden. Denn das Erbe des Bauhauses wird in einigen osteuropäischen Staaten von offizieller Seite längst nicht so geschätzt, wie das in Deutschland der Fall ist. Dort firmiert das Bauhaus unter dem Begriff "International Style" und steht in erkennbarem Widerspruch zur offiziellen national geprägten Linie.

Zudem will die Akademie die kulturpolitischen Programme der sich zur Landtagswahl stellenden Parteien untersuchen. "Das Gebot der Freiheit und der Unabhängigkeit der Kunst ist zu akzeptieren", macht Holk Freytag klar. Genau nachlesen wird er außerdem, ob die Parteien den Musik- und Kunstunterricht in Schulen garantieren. Ob bei den Veranstaltungen dazu die Räumlichkeiten ausreichen werden? "Die neuen Räume am Palaisplatz sind ein Problem", so Freytag. Bei einigen Diskussionen ist der Veranstaltungsraum viel zu klein, bei anderen wiederum spüre man deutlich, dass viele ehemals regelmäßige Besucher den Weg vom Blockhaus, dem ehemaligen Sitz der Akademie, zum Palaisplatz nicht gehen. Man nähert sich der alten Adresse mit Veranstaltungen im Japanische Palais wieder an. So bei einer Langen Nacht der Künste unter dem Motto "Zukunft finden." Auch dies hätte ein schönes, ein passendes Motto für das Programm in diesem Jahr sein können.

2018

Karin Großmann

Thomas Rosenlöcher und andere Künstler diskutieren in Dresden über verlorene Utopien und die Greifarme der Öffentlichkeit.

Gerade geht etwas heftig kaputt. Das gemeinsame Wollen ist in der Republik abhandengekommen. So beschreibt es der Chef der Sächsischen Akademie der Künste Holk Freytag. „Nicht mal die Charta der Menschenrechte gilt noch unangefochten.“ Diesen Befund ergänzt der Dichter Thomas Rosenlöcher mit eigener Erfahrung. Er habe sich in der DDR lange von einem Wir-Gefühl getragen gesehen; vom Gefühl, aus der Mitte der normalen, einfachen Leute zu kommen. Heute fragt er sich, ob dieses Einverständnis vielleicht ein Irrtum war. Angesichts der Pegida-Aufmärsche spricht er von einem Abbruch seines Grundempfindens. „Diese Erschütterung, die kriege ich nicht mehr los.“

Thomas Rosenlöcher, Holk Freytag, der Komponist Manos Tsangaris und der Leipziger Fotograf Maix Mayer versammeln sich am Mittwochabend in der Akademie in Dresden zur Beantwortung einer Gummibandfrage. Braucht die Gesellschaft die Kunst? Das lässt sich beliebig lange in jede Richtung ziehen. Und also tun es die Herren. Dass Frauen in der Runde fehlen, soll nicht wieder vorkommen, schwört Freytag. Der Saal aber ist gut gemischt gefüllt, und wieder mal sitzen etliche Zuhörer draußen vor der Tür. Der sächsische Staat scheint Künstler nicht sehr zu brauchen, sonst würde er ein größeres Domizil finanzieren, meint Rosenlöcher.

Natürlich ist jeder in der Runde felsenfest von der eigenen Notwendigkeit überzeugt, sonst würde keiner früh aufstehen zum Kunstmachen. Nötig aber wozu? „Ist der Künstler ein Staatsvogel oder der Stachel im Fleisch?“, fragt Moderator Thomas Bille. „Sind Theater eine Außenstelle der Landeszentrale für politische Bildung oder eine schlecht bezahlte sozialpädagogische Anstalt?“ Holk Freytag, etliche Jahre Intendant des Dresdner Staatsschauspiels, verteidigt die Autonomie der Bühne und die Subjektivität der Künstler. Die Nähe zu Schiller und Euripides sei größer als die Nähe zur Politik. „Aber jedes Theater hat eine Vorstellung von der Gesellschaft.“ In der Abhängigkeit vom Staat als Finanzier sieht Freytag keinen Konflikt: „Die öffentliche Unterstützung verpflichtet uns zur Teilhabe – wir sind verpflichtet, kritisch auf den Staat zu gucken.“ Aber Förderer erwarten schon auch eine Bringschuld, meint der Fotograf und Filmemacher Maix Mayer. Vor allem Architekten fühlten sich als „Nutten der Gesellschaft“ vereinnahmt. Mayer spottet über Glasfassaden, die sich als demokratisch, weil transparent ausgeben: „Das ist nur eine fiktive Sichtbarkeit und hat nichts zu bedeuten.“

Der Komponist Manos Tsangaris beschreibt die Erwartungen der Öffentlichkeit an die Kunst mit dem Bild von Tentakeln: „Sie greifen nach uns.“ Er findet es gefährlich, wenn sich Künstler als Illustratoren gesellschaftlicher Themen zur Verfügung stellen. Die jüngste Documenta nennt er als Beispiel. Er versuche es lieber mit Globuli, sagt Tsangaris, mit Kunst in kleinen, homöopathischen Dosen. „Ein Gedicht kann durch seine Poetik, seine Präzision gesellschaftlich relevant sein, auch wenn die Me-Too-Debatte nicht darin vorkommt.“

Der Komponist fühlt sich noch auf eine andere Weise bedrängt: ausgeliefert an alle Arten von „Endgeräten“ und medialer Inszenierung. Bei einer Wahl, sagt er, gewinnt nicht mehr die Partei mit dem besseren Programm, sondern die mit der besseren Werbeabteilung. Der Komponist Tsangaris klagt über zu viel Beschallung. Der Fotograf Mayer spricht von akustischer und visueller Verschmutzung. Der Dichter Rosenlöcher verdeutlicht das Problem am Beispiel einer Hiddensee-Fähre, die auf einem Monitor die Landschaft vorbeiflimmern lässt, die just in Echtzeit zu sehen ist. Eine wirklich hübsche Absurdität: Möwe analog und digital.

Es war nicht zu erwarten, dass der Abend die Grundsatzfrage erschöpfend beantwortet. Sie ist zu vertrackt. Schon Goethes Dichter Torquato Tasso kannte den Zwiespalt, dank Fürstengunst sorglos schreiben zu können und dafür den goldenen Käfig zu akzeptieren. Der Dresdner Schauspielstudent Emil Borgeest bot den Tasso-Monolog zum Auftakt des Abends. Künftig soll jede Akademieveranstaltung mit einem jungen Künstler beginnen. Er dürfte sogar mit auf dem Podium sitzen.

Olaf Winkler

Seit einiger Zeit wühle ich mich durch interessante Broschüren über Hoyerswerdas jüngste Geschichte. Das mache ich, weil ich zum Team von Tanzveteran Dirk Lienig gehöre, der jetzt mit etwa 100 Leuten der Kufa-Tanzkompagnie, dem Bürgerchor und der Theatergruppe „einmaldiewoche“ ein neues Projekt auf die Beine stellt. Es wird am ersten Juni-Wochenende im ehemaligen Centrum-Warenhaus aufgeführt und trägt den Titel: „Eine Stadt tanzt: Manifest!“ Lienig wollte sich an ein getanztes Bürger-Manifest wagen. Ich sagte ihm, dass die Stadt etwas Ähnliches schon hat – ein Leitbild und ein Handlungsprogramm, das allerdings vermutlich kaum jemand kennt. Aber vielleicht ließe sich daraus etwas machen, ehe wir das Fahrrad neu erfinden. Gesagt, getan.

Wie ein Jagdhund schnüffle ich seitdem in Hoyerswerda zum Thema Bürgerbeteiligung nach tanzdramatischem Potenzial und schlage ständig an. So in der Broschüre „Superumbau Ost - Superumbau Hoyerswerda“, die auf der Grundlage von Tagungen aus dem Jahre 2001/02 entstand. Die Sächsische Akademie der Künste hatte damals ihre Sektion „Baukunst“ zusammengetrommelt und diskutierte über die Perspektiven von Hoyerswerda.

Hier stoße ich auf interessante Rede-Passagen: „Wolfgang Hänsch: Unabhängig von den Anregungen aus unserem Kreis scheinen mir die wesentlichen Vorschläge aber von den Hoyerswerdaern selbst zu kommen. Ich habe den Eindruck, dass in Hoyerswerda ein Organisationsdefizit besteht, dass diese interessanten Gedanken zur Entwicklung eines Leitbildes nicht aufnimmt und organisiert. [...] Aber wer organisiert das? ... das Land Sachsen hat kein Interesse. Das müssen die Hoyerswerdaer selbst in die Hand nehmen. [...] Axel Schultes: Was sollen wir als Akademie der Stadt für Empfehlungen geben, wenn wir uns nicht an den Menschen orientieren, die hier leben? [...] Dass die Stadt das Vordenken nicht übernehmen will [...] kann ich nicht begreifen. Da ist etwas faul im Staate Hoyerswerda.“

In einem anderen Dokument lese ich, wie sich Mitglieder einer Bürgerinitiative äußern: „Wir haben kein Echo gefunden bei der Stadtverwaltung. [...] Wir haben immer wieder versucht, mit denen ins Gespräch zu kommen. Aber die haben es nicht ein einziges Mal (mit uns) versucht. Freilich sind wir dann auch immer hingegangen und haben ein bisschen geschimpft. [...] Wir waren aber auch frustriert.“ Ein starker, fast tragischer Konflikt zwischen der Stadtpolitik und einer Bürgerinitiative. Aber es kommt noch besser! „Die Verwaltung und der Stadtrat (haben) das als Einmischen gesehen und diese Bürgerbeteiligung [...] gar nicht gewollt!“

Dann lese ich, was sich die Leute von der Bürgerinitiative anhören mussten: „Oh Gott, was kommen da schon wieder für Vorschläge? Was wollen die schon wieder? Warum lassen die uns nicht unsere Arbeit machen? Ständig wird man hier kritisiert! Seid ihr verrückt, wie geht ihr denn mit uns um? Wir machen hier unsere Arbeit, und ihr macht uns nur runter, ihr Nestbeschmutzer!“ Da flogen ganz offensichtlich die Fetzen. Und irgendwann flog gar nichts mehr. Beleidigtes Schweigen und Verhungern-Lassen am langen Arm? Eine „toxische Beziehung“ sagt die Psychologie dazu. Innerhalb der Stadt. Zwischen Stadtpolitik und Teilen der aktiven Bürgerschaft. Damals. Dann lese ich: „Wir haben uns aufgelöst, im November 2007, weil wir gesehen haben, dass das alles keinen Sinn mehr machte.“

Neun Jahre später strande ich in Hoyerswerda, mitten hinein in den nächsten Versuch städtischer Selbst-Sortierung. Ich erfahre von einem kleinen „Aufstand“ der Bürger im April 2015. Die Stadtverwaltung hatte zu einer Bürgerversammlung zum Thema Stadtentwicklungskonzept (SeKo) geladen, auf der sich der Bürgerunmut entlud. Ich schaue auf YouTube die Elsterwelle- TV-Beiträge durch und werde fündig! Im Beitrag „Abrissdiskussion in Hoyerswerda“ sehe ich unseren Oberbürgermeister auf seinem Stuhl festgenagelt vor einer erregten Bürgermenge. Was für ein tolles Dokument! Und tatsächlich passierte dann etwas. Die Stadtverwaltung lenkte ein und baute 2016/17 das „Organisationsdefizit“ hinsichtlich der Bürgerbeteiligung ab. Das Verhältnis von Stadtverwaltung und Bürgerschaft entgiftete sich. Zahlreiche Bürgerversammlungen finden statt. Das 2011 extern beauftragte Leitbild wird zur Überarbeitung an die Bürger freigegeben. Im Mai 2017 segnen die Stadträte das bürgerbeteiligte Leitbild mehrheitlich ab. Im Herbst winken sie das dazugehörige Handlungskonzept durch. Das ist jetzt fünf Monate her. Ende 1. Akt!

Olaf Winkler ist Film- und Fernsehdramaturg sowie seit 2016 Hoyerswerdaer. Hier schildert er seine Eindrücke von der Stadt.

Artikel-URL: http://www.sz-online.de/nachrichten/stadtentwicklung-als-buehnenstoff-3926602.html

Tomas Gärtner

Die Sächsische Akademie der Künste debattiert in der Frauenkirche über einen Gesellschaftsvertrag

 

Hendrik Lasch

Die freie Tanz- und Theaterszene in Dresden will mit vereinten Kräften eine bessere Förderung erreichen

Wie sieht das Theater der Zukunft aus? Jedenfalls nicht wie eine große und schwer bewegliche Karawane, wenn es nach Bertolt Brecht ginge. Dem großen Dramatiker schwebten eher »kleine wendige Truppen und Trüpplein« vor, die auf Lastwagen über Land fahren und überall auftreten sollen, sagte er 1956 in einer Rede auf dem Deutschen Schriftstellerkongress - als Chef des Berliner Ensembles, das eher Karawane als wendiger Trupp war.

60 Jahre später ist Brechts Idee Realität, sagt Alexander Karschnia. »Wir sind diese wendigen Trüpplein.« Wir - das sind Ensembles wie das von dem Theatermacher mitbegründete »andcompany & Co.« und viele andere Gruppen und Solisten der freien Szene: Menschen, die »ihre Arbeitsprinzipien frei erfinden, Räume besetzen und sich Strukturen erschaffen, wie sie es für nötig halten«, sagt Helge-Björn Meyer, der als Tanz- und Theaterdramaturg in Bremen ebenso arbeitete wie in Rio und seit April 2018 die Geschäfte des »Landesbüros Darstellende Künste« in Sachsen führt.

Wenn, wie jetzt auf einem Podium im Festspielhaus Dresden-Hellerau, Karschnia, Meyer und deren Kollegen über ihre Arbeit reden, ist viel von Unabhängigkeit die Rede: von der Möglichkeit, sich seine künstlerischen Partner frei wählen zu können; der »großen Freiheit«, schnell in gesellschaftliche Debatten eingreifen zu können; der Chance, Themen so tiefgründig auszuloten, »wie das Angestellten nie möglich wäre«, sagt die Dresdner Tänzerin Katja Erfurth, die nach sieben Jahren an der Semperoper 1997 den Sprung in die künstlerische Unabhängigkeit wagte.

Nicht ganz so oft wurde bisher über Bedingungen gesprochen, unter denen diese Arbeit stattfindet - über Einkünfte, die weit unter der vom Bundesverband Freie Darstellende Künste empfohlenen »Honoraruntergrenze« (HUG) von derzeit 2490 Euro im Monat liegen, oder über die Notwendigkeit, sich mangels finanzieller Mittel auch um alle Arbeiten jenseits des Künstlerischen selbst kümmern zu müssen. Sie sei ihre eigene Dramaturgin, Bühnen- und Kostümbildnerin, sagt Erfurth; sie müsse Anzeigen selbst schalten, sich um Plakate und Handzettel kümmern - und nicht zuletzt die Anträge auf Fördergeld selbst stellen, das für sie und ihre Kollegen existenziell wichtig ist.

Das Problem freilich ist: Die Töpfe sind schlecht gefüllt - in der Kulturstadt Dresden noch schlechter als anderswo. Der Anteil des Kulturbudgets, der für die Projektförderung der freien Szene zur Verfügung stehe, belaufe sich auf gerade einmal 0,1 Prozent des Kulturetats, sagt die Schauspielerin Julia Amme, die nach vielen Jahren in festen Ensembles seit 2010 zum Kollektiv »La Lune« in Dresden gehört. Im Jahr 2016 hätten 83 250 Euro bereitgestanden, mit denen 30 Projekte gefördert wurden. Das seien durchschnittlich 2775 Euro für jedes von ihnen. Laut HUG reicht das für eine Person für fünf Wochen. Die meisten der Projekte sind freilich auch in Dresden keine Ein-Personen-Stücke.

Amme und ihre Kollegen drängen jetzt auf bessere Bedingungen. Viele von ihnen haben in Dresden eine »Koalition Freie Darstellende Künste« gegründet; ähnliche Zusammenschlüsse gibt es laut Meyer auch in Leipzig und seit dieser Woche in Chemnitz. In Dresden wurde zudem ein Forderungspapier mit dem Titel »Zwei für Dresden« erarbeitet, dessen Kernanliegen eine Aufstockung der Fördermittel auf zwei Millionen Euro ist. So könne die Stadt auch für größere Produktionen mit mehreren Darstellern und Mitarbeitern künftig Zuschüsse in einer Höhe zahlen, die es erlauben, weitere Förderung bei Land und Bund einzuwerben, sagt Amme. Bisher sind die Zuwendungen der Stadt dafür oft zu niedrig. Zudem soll es künftig auch Recherche- und Nachwuchsstipendien geben. Es gehe den Künstlern nicht darum, »vollumfänglich ganzjährig von der öffentlichen Hand zu leben«, betont Katja Erfurth. Allerdings, fügt Helge-Björn Meyer an, »treten wir auch nicht in erster Linie an, um in Altersarmut zu enden«.

Im Rathaus trifft das Anliegen auf offene Ohren - zumindest bei der zuständigen Kulturbürgermeisterin Annekathrin Klepsch. Die LINKE-Politikerin betont zwar, dass mit dem Kulturetat insgesamt auch die Gelder für Projektförderung zuletzt deutlich gestiegen seien - gegenüber 2014 auf das Anderthalbfache. Zugleich räumt sie aber ein, dass die Fördertöpfe oft »deutlich überzeichnet« seien und Förderbeträge von wenigen Tausend Euro »eher Armutszeugnis als Dünger« für die freie Szene seien. Das aktuelle Fördervolumen bewirke, sagt Klepsch, eine »immanente künstlerische Selbstbeschneidung«.

Die gelegentlich geäußerte Erwartung, Geld bei großen Institutionen abzuzweigen - Operette und Philharmonie etwa oder den von der Stadt mitfinanzierten Bühnen des Landes wie Semperoper und Staatsschauspiel -, hält Klepsch für falsch. Diese würden in der Folge auch bei Honoraren für freie Mitarbeiter sparen, was eine »Kannibalisierung im Kulturbereich« bewirke. Die Bürgermeisterin hält es für erfolgversprechender, eine stärkere Lobbyarbeit zu betreiben - wofür die Initiative »Zwei für Dresden« ein Beispiel ist. Zugleich sei in der Kulturverwaltung ein Konzept für die Weiterentwicklung der Kulturförderung erarbeitet worden, das unter der Überschrift »Fair für Dresden« steht und nur noch der Unterschrift des OB harre, sagt Klepsch. Und auch bei der Dresdner Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt 2025 sollen die Arbeitsbedingungen der freien Szene eine wichtige Rolle spielen.

Alexander Keuk

Unter diesem Titel lud die Sächsische Akademie der Künste am Montagabend in Dresden zu einem Podium in ihrer Reihe „Mein 1968“ ein – fünfzig Jahre danach ist es geboten, die Wirkungen und Nichtwirkungen der in jeder Hinsicht politisch und gesellschaftlich bedeutsamen Ereignisse im Heute zu reflektieren. Zwar hat die SAdK dies vor 10 Jahren zu eben dem Jubiläum an dortiger Stelle bereits getan, doch die Zeit dreht sich weiter und möglicherweise sind die Erkenntnisse heute andere?

Eingeladen hatte Akademiepräsident Holk Freytag zu einem Gespräch dreier Musik-Menschen, nämlich Peter Gülke, Manos Tsangaris und Jörn Peter Hiekel, die im weitesten Sinne über ihr Tun zumindest eine gesellschaftliche Relevanz, einen Spiegel und/oder eine Auseinandersetzung formulieren: das Politische schleicht sich immer mehr oder weniger absichtsvoll in die Tätigkeiten des Musikwissenschaftlers, des Dirigenten und Komponisten ein oder es „geschieht“, wie Freytag in seiner Begrüßung aus der eigenen Erinnerung heraus schilderte: die Uraufführung des Oratoriums „Das Floß der Medusa“ von Hans Werner Henze in Hamburg geriet am 9.12.1968 zu einem Skandal und musste – wie die Radioübertragung, der Freytag lauschen wollte – abgebrochen werden. Eine Schilderung dieser Ereignisse kann man beim NDR nachlesen.

Bevor die Gesprächsrunde dem nachspürte, wie Protest wirklich klingt und welche Wirkung solche Musik entfaltet oder eben nicht entfaltet, musste ein Rahmen abgesteckt werden, um Differenzierung zuzulassen und nicht zu einfache Antworten auf eine Gemengelage zu geben, die insbesondere in der Musik sich eher schemenhaft gibt und eben dort interessant wird, wo nicht der politische Holzhammer gleich im Gestus steckt oder sich propagandistischen Texten unterzuordnen hat. Allein die Aufzählung von Namen, die Protestmusik in ganz unterschiedlichen Kontexten schrieben und schreiben – nehmen wir einmal die in der Veranstaltung genannten Beethoven, Schostakowitsch, Eisler, Henze, Nono, Goldmann, Schenker, Krätzschmar oder Tsangaris – zeigt, dass die Haltungen und Beweggründe höchst verschieden waren und sind. Immer aber waren die Genannten Seismographen inmitten eines gesellschaftlichen oder politischen Prozesses, der aber eben auch wie der Sozialismus der augenblicklich fühlbare Stillstand gewesen sein kann. Auch diesem läßt sich eine musikalische Stimme geben, und sei es die der Karikatur, die, wie Gülke treffend bemerkte, immer dann aufflammt, wenn das Entgegensetzen schon in die Lächerlichkeit mündet, die letztlich nach der Ohnmacht kommt: es wird böse gewitzelt, aber eigentlich bewegt sich nichts.

Und dennoch ist der Drang des Ausdrucks und der Auseinandersetzung bei den Komponisten da, wenn auch mit unterschiedlichem Absichtsbewusstsein. Die Chiffrierung, der sich Komposition als Sprache bedient, hilft, auch eine emotionale Regung, einen Druck oder ein inneres Abwenden, einen Ekel tatsächlich auf’s Papier zu bannen, wo der verbale Protest oder das Herumlaufen mit Bannern auf der Straße die eigene Hilflosigkeit eigentlich nur verstärken würde. Peter Gülke machte denn auch in einem fast manifestären Monolog Mut zur Artikulation, der leider etwas im Raum verpuffte, denn deutlich zu wenig Künstler und Komponisten hatten an dem Abend den Weg zur SAdK gefunden. Protestmüdigkeit? Auseinandersetzungsstarre oder Überforderung mit allgegenwärtigem Pro und Contra eigentlich sinnfreier Debatten und Talks, gleich ob hinter beredtem Bundestagsredepult oder im Manipulationstrash eines TV-Talks? Warum protestieren wir eigentlich nicht (viel mehr?) bzw. nicht mehr? – Das „Empört Euch“ von Stéphane Hessel ist auch schon wieder acht Jahre alt und hat sich als allzu frommer Wunsch entpuppt: alle reißen das Maul auf, Respekt, Schweigen und Zuhören ist bitte an der Garderobe abzugeben.

Wenn ich an dieser Stelle bemerke, dass ich viel mehr eigene Gedanken hinzugebe, als die gestrige Veranstaltung abzubilden, zeigt dies eigentlich auch das gesunde Scheitern derselben im gut zweistündigen Ankratzen eines sehr großen Themas, mit dem jede(r) Anderes verbindet. Die Ausdifferenzierung als Rahmen fand auch zu Beginn durch Peter Gülke klare Worte und war verbunden in den Prinzipien der Utopie und der Hoffnung – sowohl in Ost und West. Auch die Vorgeschichte der Hippie- und Protestgeneration wie auch musikalische Schlüsselereignisse wurden angerissen: Russland hatte 1962 „seinen“ Strawinsky wieder, der Besuch des Komponisten in der Sowjetunion ist bei der ZEIT nachlesbar). Andere für mich ebenfalls wesentliche Ereignisse – dazu würde ich den ganzen Werkkosmos von Bernd Alois Zimmermann mindestens ab 1965, dem UA-Jahr der „Soldaten“ zählen, aber auch etwa die UA der 13. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch 1962, deren Wirkung am besten mit einer erneuten Vereisung des politischen Tauwetters gleichzusetzen ist, fehlten hier schon aus Platzgründen. Weniger klar auszumachen war ein wirklicher Bruch oder eine Wende in der Musik vor, am Punkt oder nach 1968 nicht, wenn man etwa Darmstadt oder Donaueschingen als Zentren der neuen Musikwelt betrachtet (Stefan Fricke hat dies im April in einem Radio-Essay namens „Die 68er – Demokratie wagen“ bei SWR 2 getan, Abstract hier), eher eine Abgrenzung und Individualisierung im Vokabular, als Beispiel wurde hier Helmut Lachenmann angeführt.

So ging es im weiteren Gespräch der drei Gäste zunächst um eine Grundstimmung, die etwa 1968 auch im Osten verursachte, der „monolithische Block“ (Gülke) des Sozialismus war zunächst einmal zu Ende ohne dass man ihn damals in irgendeiner Form ins Wanken gebracht hätte. Aber die künstlerische Hinterfragung war insofern in der Musik leichter möglich, da ideologische Kriterien an Musik schwieriger zu stellen waren als in anderen Künsten, auch wenn (siehe Komponistenkongresse und Verdikte in der Sowjetunion) es immer wieder versucht wurde, und es in dieser absurden Anmaßung auch Opfer gab – das Prominenteste war wohl Schostakowitsch selbst.

Einig war man sich darin, dass Protestmusik schwierig im „lauwarmen Flachwasser der demokratischen Beliebigkeit“ gedeihe (Gülke), vereinfacht gesagt ist eine „machtgeschützte Innerlichkeit“ eher fatal für die Künste ebenso wie die fehlende Reibungsfläche, erkennbar auch daran wie manche Komponisten in den 30er Jahren blind in den Faschismus rasselten. Anders dagegen, so formulierte Gülke es, haben Künstler in der DDR immer „verantwortlich“ komponiert, wobei ich hinzufügen möchte, dass dieser Begriff natürlich den Ruch der Vorsicht und des vorauseilenden Nichtmissverstandenwerdens einkomponiert. Manos Tsangaris fügte hier ein Zitat von Mathias Spahlinger ins Feld, dass Autonomie auch immer eine „geglückte Abhängigkeit“ sei (Tsangaris: Hören GlutKern Modulation) und wies damit auf die Verortung des Komponisten hin, der vom Werkbegriff bis hin zum Setting einer Komposition immer weitreichende Entscheidungen treffe.

In der Tragweite dieser Entscheidungen liegt natürlich auch einzuschätzen, wie etwa die Umwelt auf die Musik reagiere. Die „Dekontextualisierung kippt“ heutzutage, Provokation und Protest wurde längst vereinnahmt, wir finden sie heute ebenso in der Werbung – dort auch schon längst vulgarisiert – wie auch als Machtgewinn, etwa in narzisstischen Strategien, die heute schon gar nicht mehr entlarvt oder hinterfragt werden, weil sie natürlicher Teil eines gesellschaftlich akzeptierten Systems sind. Dadurch – dies wiederum eine persönliche Erkenntnis von mir, sind Grenzen der Wahrnehmung und der Einordnung, auch und gerade durch die Medien, völlig herabgesetzt worden und machen einen nahezu surrealistischen Vorgang wie ausgerechnet gestern mit dem Kunstprojekt SOKOChemnitz geschehen, erst möglich. Tsangaris formuliert daraus eine unmissverständliche Haltung: „Wir sind verdammt dazu, konzeptuell zu denken“.

Derweil ging Gülke, von Tsangaris mit Zustimmung bedacht und gleich nachdem Tsangaris einen kurzen Hauch wunderbarstes Wuppertal-Elberfeld in die Runde brachte, indem er den „Gammlern“ der Vor68er am Brunnen eine kurze Hommage widmete, auf die Formen der Darbietung und Verortung von Musik ein und verteidigte ein Kategoriensystem etwa der Konzerthäuser und des „Bürgerlichen“, das hier unbedingt als Ritual auch positiv konnotiert sei, weil im „geschützten Raum“ sich durchaus Protest und Revolution entfalten kann, mehr noch: die Konzentration auf „Musik in der Mitte der Bühne“ nimmt die Musik selbst zunächst einmal ernst. Sie fährt nicht mit uns Aufzug, sie beschallt uns nicht auf dem Weihnachtsmarkt, sie vergewaltigt uns nicht medial, sondern der umgekehrte Weg erfolgt: wir gehen hin und wollen sie empfangen. Gleichzeitig spielen andere sie für uns. Damit ist schon eine gegenseitige Respektsituation sondergleichen geschaffen, die im Schrei-Schrei des Draußens genau diesen Regelrahmen entbehrt. [Diesem Phänomen habe ich mich in meinem Stück Kan Kun ausführlich gewidmet.] — Das Hinhören (Credo meines Unterrichtes bei Hans Jürgen Wenzel) muss allerdings auch außerhalb der Konzerthallen endlich wieder erlernt werden und kann dann dort auch zu Protest führen – so wie ich eigentlich seit Jahren keine Kneipen betrete, in denen ich während der Essenseinnahme ein Tennis-Match an der gegenüberliegenden Fernsehwand audiovisuell zwangsverfolgen muss.

Im weiteren Verlauf ging die Diskussion dann in einen Bereich von künstlerischer Freiheit und Befreiung, was eine mindestens mehrwöchige Fortsetzung beansprucht hätte. Es bleibt das vehement vorgetragene Statement von Peter Gülke im Ohr, sich nicht entmutigen zu lassen. Und mehr noch: „die notorische Unterforderung des Publikums vermehrt die Dummheit“. An dieser Stelle hätte wahrscheinlich mdr Kultur entrüstet die nicht erfolgte Übertragung abgeschaltet. Wir hätten in der Veranstaltung Fähnchen gebastelt und dazu noch ein wenig Hans Werner Henze gehört. Und bleiben unseriös.

2017

Teresa Ende

Fotografien Věra Koubovás in der Sächsischen Akademie der Künste

Ein „Phantom“ ist eine unwirkliche Erscheinung und meint ein Trugbild oder eine Sinnestäuschung. Doch wie ist die Rede vom „Phantom“ im Fall einer Fotografie-Ausstellung gemeint, die ja ganz präsente Licht-Abdrucke der Wirklichkeit versammelt?

Unter dem Motto „Phantome von Prag“ sind in den Räumen der Sächsischen Akademie der Künste derzeit analoge Schwarzweißfotografien der 1953 geborenen tschechischen Fotografin und preisgekrönten Übersetzerin Věra Koubová zu sehen. Das Phantomhafte bildet hier ein Leitmotiv: nicht nur in Bezug auf Koubovás Bildgegenstände und -titel, sondern auch auf das ihren Arbeiten zugrunde liegende Verständnis des Mediums der Fotografie selbst.

Den „entscheidenden Augenblick“ festzuhalten, wird spätestens seit der französischen Fotografenlegende Henri Cartier-Bresson als die große Möglichkeit der Fotografie angesehen. Doch ist damit nicht irgendein Augenblick gemeint, wie beim Großteil der täglich geschossenen Millionen von Fotos, zumal im Zeitalter digital generierter und sofort massenhaft geteilter Bilder. Vielmehr geht es darum, den „moment décisif“, den entscheidenden Moment, einzufangen, der die Essenz einer komplexen Situation oder Stimmung in sich trägt und damit stellvertretend für eine ganze Geschichte steht.

Derartige, über sich selbst hinausweisende Augenblicke sind das Thema der sensiblen fotografischen Mensch-Stadt-Erkundungen, die Věra Koubová auf ihren ausgedehnten Spaziergängen durch Prag betreibt. Seit 25 Jahren schon beobachtet sie mit der Kamera die Straßen ihrer Heimatstadt. Die älteren Fotografien zeigen Menschen in Prag, aber jenseits von touristischen Hotspots. Denn es geht Koubová vor allem darum, einen vielsagenden Ausdruck oder Blick, eine typische Geste festzuhalten, wie bei dem älteren Paar in Rückenansicht in der Fotografie „Hand“, in der die Beziehung zweier Menschen auf den Punkt gebracht ist.

Koubová besitzt ein Gespür für Situationen, in denen es spannend werden könnte, und verfügt über die Reaktionsfähigkeit, nach mitunter langem Warten zur richtigen Zeit den Auslöser zu betätigen. Ein Beispiel ist die Straßenszene „Doppelturm“ mit der gleichgestimmten Bewegung zweier im Regen vorbeieilender Männer in dunklen Mänteln in identischer Handhaltung, die von den zwei Turmspitzen der Prager Nikolauskirche gedoppelt wird: Eine scheinbar alltägliche Situation, die durch die Übertragung in die Fotografie verfremdet und überhöht wird, ohne zu pathetisieren.

Im Laufe der Zeit hat sich der Fokus in Koubovás Bildern verschoben zugunsten ephemerer Phänomene: In „Der Eingewachsene“ fragmentiert das flüchtige Licht- und Schattenspiel der Baumkronen die Gegenstände und bindet sie mit seinem Flickenteppich aus Hell und Dunkel doch zusammen. Im Foto „Denkmal“ verleihen Licht und Staub der Gestalt eines seine Schubkarre entleerenden Arbeiters für einen Moment eine statuenhaft-überhöhte Anmutung. Ein anderes Mal sind es Wolken, Kondensstreifen am Himmel, Verwitterungen an Gemäuern oder Witterungsspuren am Boden, die zum eigentlichen Bildgegenstand avancieren.

Koubovás Arbeiten machen deutlich, dass Fotografien eben nicht automatisch sich selbst erzeugende Bilder darstellen, sondern Ergebnis komplexer Prozesse sind. Fotografie ist eine konzeptuelle Tätigkeit: Zumal die preisgekrönte Literaturübersetzerin Koubová, die sämtliche Werke Franz Kafkas sowie Texte von Friedrich Nietzsche, Peter Handke, Richard Pietraß und anderen ins Tschechische übertrug, für zahlreiche ihrer Bilder von literarischen Texten ausgeht, um deren Stimmung ins Foto zu übertragen. Ein Beispiel für diese Art der ‚Illustration’ ist das Bild „Verwandlung“, das erste einer ganzen Bildserie zu Kafka. Es zeigt eine unübersichtliche Straßenszene mit labyrinthisch-unerbittlichen Folien und Planen, die jede Orientierung nehmen, und so die Isoliertheit von Kafkas Gregor Samsa spiegeln, der eines Morgens in ein Ungeziefer verwandelt erwacht.

Die Literatur fungiert hier als „Sprungbrett“ (Koubová), das den Bildfindungsprozess zwar anstößt, aber eigenständige Bildwerke hervorbringt, die unabhängig von den Texten funktionieren. Ihre ‚Illustrationen’ sind keine Visualisierungen von Literatur, sondern Übersetzungen, die, wie ihr Pendant im Bereich der Sprache, immer auch Neuschöpfungen darstellen, weil sie bearbeiten und umformen, mit dem Ziel, ein Werk den Erfordernissen einer anderen Sprache oder eben eines anderen Mediums anzupassen.

Die aus dieser Wort-Bild-Schere resultierende Spannung wird durch die Wahl der bildkünstlerischen Mittel weiter gesteigert: Der bewusste Verzicht auf Farbigkeit gibt den Schwarzweißfotografien eine andere Qualität, da die Übersetzung in Grauwerte die gefundene, gesehene Situation der farbigen Wirklichkeit verfremdet und andere Bildwerte, wie Linie und Form, Hell und Dunkel, unterstreicht. Damit regt Koubová zur Reflexion über das Verhältnis von Bild und Wirklichkeit an. Denn obwohl jede Kunst eine Transformation und Abstraktionsleistung darstellt, macht das monochrome Werk diesen Umstand unmittelbar ersichtlich.

Die Spannung in den Fotografien Koubovás ist zugleich Ergebnis einer programmatischen Fragmentierung des Bildgegenstandes, die den Arbeiten Mehrdeutigkeit verleiht. Die daraus resultierende Uneindeutigkeit ist dazu geeignet, uns als Betrachter zu aktivieren und Geschichten in uns auszulösen. Wir sind aufgefordert zu ergänzen, die versprengten Teile zusammenfügen und dabei assoziativ zu lesen. Entsprechend finden wir hier eine Wirklichkeit dargestellt, die der Vision der Fotografin entspricht, die vorher zwar nicht weiß, was sie in einem Foto bekommen wird, die aber weiß, wonach sie sucht. Die von ihr als „entscheidend“ erkannten Momente sind es aus der spezifischen, erlebten Situation heraus – sobald der Augenblick bewusst wird, ist er schon vergangen. Damit zielen die Bilder ins Zentrum unseres Erlebens und unserer Existenz, die selbst so flüchtig, lockend und veränderlich ist wie ein Phantom.

Peter Geist

In einem Dresdner Papier warnen Uwe Tellkamp und andere vor einer „Gesinnungsdiktatur“. Doch die Gefahr lauert woanders. Eine Widerrede.

Bäte mich jemand um die Zustimmung zu nachstehenden Sätzen, ich zögerte wohl kaum: „Die Erstunterzeichner (…) wehren sich entschieden gegen jede ideologische Einflussnahme, mit der die Freiheit der Kunst beschnitten wird. Wehret den Anfängen – für gelebte Meinungsfreiheit, für ein demokratisches Miteinander, für respektvolle Auseinandersetzungen!“

Es handelt sich um die Schlusssätze einer, und hier komme ich ins Stutzen, „Charta 2017“, die am 14. Oktober 2017 in Dresden vom Buchhaus Loschwitz am Fuße des Weißen Hirsch aus in die weite Welt gesandt wurde. Als Charta bezeichnet man gemeinhin eine Satzung gewichtigen Inhalts von Organisationen oder Bewegungen. Eine „Charta 2017“ verweist zudem notwendig auf die 1977 in der Tschechoslowakei gegründete Bürgerrechtsplattform „Charta 77“ als zivilgesellschaftliche Opposition im Staatssozialismus Husak’scher Prägung.

Eine Charta ist das Dresdner Papier, zu deren Erstunterzeichnern Autoren wie Ulrich Schacht und Uwe Tellkamp gehören, aber mitnichten, sondern ein anlassgebundener Protestbrief. Anlass waren Tumulte auf der Frankfurter Buchmesse, als beim Stand des Antaios-Verlages Vertreter der Identitären zusammen mit dem AfD-Politiker Björn Höcke auftraten. Gegendemonstranten tappten prompt in die gestellte Falle und sorgten gemeinsam mit Veranstaltungsbesuchern für Skandal samt gehörigem Medienauflauf. Als dann noch über Nacht der Stand des neurechten Vordenkers und Verlegers Götz Kubitschek leergeräumt wurde – von wem auch immer –, war die Publicity perfekt: Ein von Büchern entleerter Messestand, der symbolisch auf den abwesenden Signifikanten verweist, ist durch die Projektionsoffenheit für den Betrachter von ungleich wirksamerem Eindruck als ein normal bestückter unter Tausenden anderen Ständen.

Die Unterzeichner des Briefes allerdings sehen darin ein Menetekel für die Bedrohung der Meinungsfreiheit in Deutschland, mehr noch, sie behaupten, „unsere Gesellschaft“ sei „nicht mehr weit von einer Gesinnungsdiktatur entfernt“. Zur Hybris, den Begriff „Charta“ zu missbrauchen, gesellt sich also ein keiner tiefergehenden Begründung für wert befundener Pauschal-Alarmismus. Mit dem Begriff „Gesinnungsdiktatur“ tauchen übrigens ausnahmslos rechte bis ultrarechte Sites aus den Untiefen des Internets auf. Der Initiatorin Susanne Dagen vom Buchhaus Loschwitz sollte das entgangen sein? Der Frankfurter Sturm im Wasserglas dient nun jedenfalls Verallgemeinerungen etwa über einen „Gesinnungskorridor“.

Nun sollte man wissen: Kubitschek verlegt vor allem die Schriften der deutschen Identitären, die mit Verve völkisch-nationalistische Ideologeme eines ethnisch homogenen Volkes gegen Migration und „Vermischung“ ins Feld führen. Kubitschek betreibt auf seinem Gut Schnellroda ein „Institut für Staatswissenschaft“ als Kaderschmiede der Neuen Rechten in der Tradition der Konservativen Revolution der Zwanziger- und Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts. Und vor allem in der des Staatsrechtlers Carl Schmitt, Verächter der parlamentarischen Demokratie und des Liberalismus, der in bezeugter Nähe zu den letzten Reichskanzlern der Weimarer Republik stand, von Papen und Schleicher, die einen Ständestaat zu reinkarnieren gedachten. 1935 bezeichnete der „Kronjurist des 3. Reiches“ (so Waldemar Gurian, ein früherer Adept, über Schmitt), die Nürnberger Rassengesetze als „Verfassung der Freiheit“.

Kubitschek schreibt über Schmitt, ihn zu lesen sei „wie Bach zu hören: Beiläufig, schlagartig, nachhaltig stellt sich Klarheit in der eigenen Gedankenführung ein.“ Ich frage mich: Kubitschek bekommt auf der Frankfurter Buchmesse einen Stand zugesprochen, betreibt uneingeschränkt Verlag und Institut, redet auf Pegida-Veranstaltungen und gern auch mit Journalisten der verhassten „System“-Presse. Wem also kommt die Rede von nahender „Diktatur“ im Brief vom Weißen Hirsch zustatten?

Es handelt sich in diesem Fall nicht um irgendwelche Scharmützel unter schier ewigen ideologischen Gegnern. Wir erleben gegenwärtig eine Renaissance völkisch-nationalistischer Staatsauffassungen als Begleiterscheinung der neoliberalen Verwüstungsorgien seitens des Globalkapitals. Dort, wo die Nationalisten an die Macht gekommen sind, gilt ihre primäre Handlungsoption der Aufhebung der Gewaltenteilung, der Entfernung liberal-demokratischer Kräfte aus dem Staatsapparat, den Massenmedien und Kulturinstitutionen. Schließlich der Abschaffung demokratischer Normalitäten zugunsten autokratischer, wenn nicht diktatorischer Strukturen, wie wir es in Polen, Ungarn, der Türkei und Russland beobachten können, ermuntert durch den gegenwärtig Einwohnenden im Weißen Haus. Insofern ist die Dresdner Deklaration ein seltsam widersprüchlich Ding, weil sie diejenigen Kräfte hofiert, die „einer offenen und toleranten Gesellschaft und eines freien Geisteslebens“, wie es im Empörungsbrief geschrieben steht, diametral entgegenstehen.

Ich erlaube es mir, schlusshin etwas persönlicher zu werden: Sozialisiert im schönen Gewusel von Kunst und Wissenschaft in Leipzig, tagtäglich in Berlin umgehend mit Menschen vielerlei Herkunft, ist mir die Dresdner Erregung fremd in Anmaßung, Stil und Gestus. Zu den Erstunterzeichnern gehört auch ein Kollege aus der Sächsischen Akademie der Künste, was allein in seiner Verantwortung liegt. Die Signatur von Jörg Bernig belegt aber auch: Gesellschaftliche Risse gehen auch durch jene Institutionen, die ganz sicher dem Geist der „Charta 77“ verpflichtet sind, in der es heißt, sie sei gegründet „auf den Prinzipien der Humanität, der Solidarität und der Zusammenarbeit“.

Diese Auspizien bestimmen das Wirken der Sächsischen Akademie der Künste von Anfang an. Nachdem im Frühjahr 2017 im Rahmen der Akademie eine sehr lebhafte Diskussion von Mitgliedern der Klasse Literatur – unter anderem Thomas Rosenlöcher, Angela Krauß, Jörg Bernig, György Dalos, Kerstin Hensel – über Begriffe wie „Volk“, „System“ und „Sprache“ in Gang gesetzt wurde, ist nun umso mehr klar: Diese Diskussion werden wir fortsetzen, sekundiert von unaufgeregt Kundigen.

Till Janzer

Im nordböhmischen Liberec / Reichenberg diskutieren derzeit 20 Dichter und Übersetzer aus Tschechien, Deutschland und Polen, wie sich Poesie in andere Sprachen übertragen lässt. Die Veranstaltung nennt sich „Poesie in Bewegung“, und Besucher sind willkommen.

Poesie ist nicht nur Schrift und Wort, sondern hat heute viele Formen. Das erschwert eine Übertragung in fremde Sprachen noch einmal zusätzlich, denn klassisch übersetzen lässt sich Lyrik ja nicht. Auch damit beschäftigen sich die Teilnehmer von „Poesie in Bewegung“. Pavel Novotný ist Germanist an der Technischen Hochschule von Liberec und hat die Veranstaltung mitorganisiert: „Es geht darum, dass sich nicht nur die Autoren treffen, sondern auch die Übersetzer – denn es bestehen Fragen nach der Beziehung des Übersetzers zum kreativen Prozess und wie sich Literaturwissenschaftler an diesem Prozess beteiligen können. Welche Grenzen bestehen also zwischen Künstler, Übersetzer und Theoretiker?“

Es ist nicht die erste solche Zusammenkunft von Dichtern, Übersetzern und Wissenschaftlern aus Tschechien, Deutschland und Polen. Zweimal bereits wurde über die Fallstricke von Übertragung und Nachdichtung diskutiert, veranstaltet von der Sächsischen Akademie der Künste, der erwähnten Technischen Hochschule sowie der Wissenschaftlichen Bibliothek in Liberec. Diesmal steht noch ein weiterer Aspekt im Mittelpunkt: welche neuen Herausforderungen durch die Veränderungen in der Medienlandschaft entstanden sind. Auf deutscher Seite gehört der Literaturkritiker Peter Geist zu den Organisatoren: „Es gibt neue Fragen, so etwa: Wie übersetzbar sind digitale Poesie und audiophone Poeme? Sind technisch generierte Übersetzungsprogramme für künstlerische Texte brauchbar oder nicht? Wie weit verändern soziale Medien die Übersetzungspraxis poetischer Texte? Das heißt weg vom singulären Übertragen hin zu kollektiven Formen der poetischen Übersetzung.“

All das wird in Vorträgen, Diskussionen und drei (sogenannten) „Werkstätten“ von Mittwochnachmittag bis Donnerstagabend erörtert. Unter den Teilnehmern sind auch klingende Namen, so aus Tschechien etwa Radek Malý, der bereits zweimal den wichtigsten Literaturpreis des Landes gewonnen hat, den Magnesia Litera. Erst kürzlich hat Malý seine Übertragungen der Gedichte von Georg Trakl, Jakob von Hoddis und weiteren Künstlern des Expressionismus in einem neuen Buch herausgebracht. Aber auch deutsche Prominenz hat sich angesagt: „Ich freue mich zum Beispiel sehr, dass es uns gelungen ist, die Grande Dame der deutschen Poesie Elke Erb für diese Veranstaltung zu gewinnen. Sie hat gerade den renommierten Eduard-Mörike-Preis erhalten. Und da Pavel Novotný und ich es uns zur Aufgabe gemacht haben, Lyrikerinnen und Lyriker einzuladen, die genauso als Dichterinnen und Dichter relevant sind, wie auch als poetische Übersetzer, sind wir im Falle Elke Erbs besonders glücklich“, so Peter Geist.

Von den jüngeren Autoren aus Deutschland ist zum Beispiel Charlotte Warsen aus Berlin nach Liberec gekommen. Auch sie wird – neben den erwähnten Radek Malý und Elke Erb sowie Weiteren – am Mittwochabend in der Buchhandlung Fryč lesen. Doch ebenso die Werkstätten, Vorträge und Diskussionen sind frei zugänglich, so Pavel Novotný: „Sie richten sich im Grunde an die breiteste Öffentlichkeit. … Am Abend im Kino Varšava sind drei Performances geplant, die fast ohne Sprache auskommen. Da kann praktisch jeder kommen.“

Die aus Südafrika stammende Malerin Marlene Dumas gibt das Geld für den Hans Theo Richter-Preis an den künstlerischen Nachwuchs weiter. Nach der Preisverleihung am Donnerstag überließ sie die Summe von 20 000 Euro dem Dresdner Kupferstich-Kabinett für ein Stipendiatenprogramm, wie die Sächsische Akademie der Künste am Freitag mitteilte. Dumas pflegt eine enge Verbindung zu Dresden. Vor einem Jahr wurde in der Annenkirche ein Altarbild von ihr eingeweiht. Aktuell ist ihr Schaffen Teil einer Doppelausstellung mit Arbeiten von Käthe Kollwitz im Kupferstich- Kabinett. Der von der Witwe Hans Theo Richters gestiftete Preis ist eine der am höchsten dotierten Auszeichnungen für Grafik und Zeichnung im deutschsprachigen Raum. Er wird von der Sächsischen Akademie der Künste in Zusammenarbeit mit der Hildegard und Hans Theo Richter- Stiftung und dem Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden in der Regel alle zwei Jahre vergeben.

Mit freundlicher Genehmigung der dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH

Die südafrikanische Künstlerin Marlene Dumas erhält den Hans Theo Richter-Preis für Zeichnung und Grafik 2017 der Sächsischen Akademie der Künste. Sie gelte als eine der wichtigsten Künstlerinnen der Gegenwart, genieße internationale Anerkennung und habe in diesem Jahr unter anderem das vielbeachtete Altarbild für die Dresdner Annenkirche gestaltet, teilte die Akademie am Donnerstag in Dresden mit.

Der mit 20 000 Euro dotierte Preis wird alle zwei Jahre vergeben. Er soll am 23. November im Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden überreicht werden. Für den Herbst sind auch zwei Ausstellungen der Künstlerin in Dresden geplant. Sie wurde 1953 in Kapstadt geboren. Dumas lebt und arbeitet seit 1977 in Amsterdam.

Mit freundlicher Genehmigung der dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH

Janina Fleischer

Sächsische Akademie der Künste wählt Holk Freytag zum Präsidenten und feiert „Nacht der Utopie“

Die Kunst, so scheint es, steht der Utopie am nächsten, weil sie nichts beweisen muss. Das Theater beispielsweise sei ein Ort, an dem Träume wahr werden können, sagt Kay Voges, „per se ein utopischer Ort“, der Alternativen ausprobiert. „Wir müssen das Unmögliche suchen, und wenn wir es geschafft haben, sind wir gescheitert, weil es möglich geworden ist.“ Der Regisseur und Dortmunder Schauspielintendant hat am Samstag in der „Langen Nacht der Utopien“ im Haus des Buches mit seinen Kollegen Holk Freytag und B. K. Tragelehn über die Möglichkeiten des Theaters diskutiert. Schauspieler und Zuschauer teilten den Blick auf den Augenblick, sagt Brecht-Schüler und Heiner-Müller-Freund Tragelehn. „Utopie“ sei heute beinahe zum Schimpfwort geworden, die junge Generation neige dazu, häufiger Dystopie in den Mund zu nehmen.

Zu diesem Zeitpunkt, es geht auf Mitternacht zu, kann man im Literaturcafé das Buffet noch riechen und die vorgerückte Stunde schon hören: die Konzentration lässt langsam nach. Seit 19 Uhr wird in Texten, Musik, Dramatik, Architektur, Tanz, Film und Gesprächen nach dem gesucht, was Christa Wolf übersetzt hat in „Kein Ort. Nirgends“. Es sind (fast) alle Sparten vertreten, denn die Veranstaltung bildet den Abschluss einer Mitgliederversammlung der Sächsischen Akademie der Künste, in deren Rahmen Holk Freytag als Nachfolger von Wilfried Krätzschmar zum neuen Präsidenten gewählt wurde. Das öffentliche Fest, bei dem der Saal aus allen Nähten platzt, nennt Kuratoriums-Chefin Birgit Peter „ein Geschenk“ für ihr Haus des Buches.

„Brüche. Gegenbilder. Utopien“ heißt das Jahresthema der Akademie. Eigentlich ist es ein Jahrhundertthema, ein Menschheitsthema sogar. Die Textcollage zur Eröffnung legt vor mit Zitaten aus der Bergpredigt und dem Kommunistischen Manifest, aus Tommaso Campanellas „Der Sonnenstaat“ und Thomas Morus’ „Utopia“, mit den Worten von Thomas Müntzer, Friedrich Nietzsche, Martin Luther King, Thomas Mann sowie aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Jüngster in diesem Kanon ist Roger Willemsen (1955–2016), der in „Wer wir waren“ schreibt: „Mag die Welt auch vor die Hunde gehen, die Zukunft hat dennoch ein blendendes Image, und selbst verkitscht zu Wahlkampfparolen, verkauft sie sich so gut, als wäre sie wirklich noch ein Versprechen.“

Frauen finden sich nicht unter den Zitierten, deren Diagnosen und Träume nahtlos ineinandergreifen. Später ist von Rosa Luxemburg zu hören, vom letzten großen Kampf, „in dem es sich um Sein oder Nichtsein der Ausbeutung, um eine Wende der Menschheitsgeschichte handelt“, in dem es „keine Ausflucht, kein Kompromiss, keine Gnade geben kann“. Die Gedankenreise in ein Land, das es nicht gibt, orientiert sich an Zitaten. Oder ist es ein Festklammern? Als Ersatz für neue Utopien? Dabei sollte kein Mangel an Phantasie herrschen, wo Enttäuschung Realität ist. „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“, sagt Uwe Gaul, Staatssekretär für Wissenschaft und Kunst – und zitiert damit den Maler Paul Klee.

Als Moderator des ersten Programmteils orientiert sich Christian Lehnert an Ernst Bloch, für den der utopische Diskurs die „ausmalende Vorwegnahme eines wünschenswerten Zustands“ war, hat aber auch eigene Gedanken zu Vorkommen und Verwendung von Wünschen, die vor allem in Fragen Ausdruck finden. „Ist das Wünschen in die Jahre gekommen?“ Ihm als Religionswissenschaftler ist vertraut, dass bei der Annäherung an philosophische Begriffe, „der theologische Grund“ durchschimmert. Als Lyriker weiß er um die Aufgabe der Kunst als „Gegenwirklichkeit“.

Dann geht es zurück nach vorn. Seit 1988 entwickelt der Leipziger Bernd Franke seine Komposition „half-way house – Solo xfach“ (für Joseph Beuys), in der jeder Musiker als Solist auftritt, auch „um alles zu dekonstruieren, was mit Massen zu tun hat“. Veränderung in der Gesellschaft beginne beim Einzelnen. Utopie, sagt Franke, sei für ihn eine „Melange aus Visionen, Wünschen, Ängsten, Träumen, Zweifeln ...“

Er sitzt mit den Schriftstellern Angela Krauß und Christoph Hein auf dem Podium – nachdem Hein „Kein Seeweg nach Indien“ gelesen hat, seinen Beitrag für die „New York Times“, um den Amerikanern das Ende der DDR zu erklären. „Es sind die Narren, die die Welt weiterbringen“, sagt er.

Auch Krauß beschreibt in „Wie weiter“ das, was „über Nacht Revolution hieß“, weil keine Zeit geblieben war, ein Wort dafür zu finden. „Utopie“ sei für sie überhaupt kein Wort, sagt Krauß, „es ist ein Begriff, denn ich erstmal von seiner Rüstung befreien muss“. Sie führt ihn zurück auf Persönliches, wendet ihn an auf das Gefühl am Morgen: „Heute bist du der Mensch, der du wirklich bist, der du schon immer sein wolltest.“ Im Übrigen könne nur das Schweigen „die Berührung mit dem Unbekannten“ anbahnen.

Wenn der Publizist Friedrich Dieckmann den Mauerfall als einen „utopischen Moment par excellence“ bezeichnet und Werner Durth als Architekturhistoriker in seinem Vortrag über geträumte, geplante und gebaute Utopien Beispiele wie die Gartenstadt Hellerau zeigt, dann dient Vergangenheit sowohl als Projektionsfläche für ein besseres Leben – als auch als Erinnerung an bessere Träume.

Auf der Suche nach der besseren Zeit wird nicht der Zukunft über die Schulter geschaut, sondern in den Rückspiegel. Sicher kann man über Utopien nicht mit den Wörtern von gestern sprechen und kaum mit den Begriffen der Gegenwart. „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben“, wird Robert Musil zitiert. Den gilt es zu schärfen.

Oliver Reinhard

Ex-Schauspielintendant Holk Freytag kehrt als neuer Präsident der Sächsischen Akademie der Künste zurück nach Dresden.

Auch Kulturschaffende zieht es immer mal wieder an ihre einstigen Tat-Orte: Holk Freytag, nach Stationen unter anderem in Moers und Wuppertal von 2001 bis 2009 Intendant des Staatsschauspiels Dresden, wurde von den Mitgliedern der Sächsischen Akademie der Künste zum neuen Präsidenten gewählt. Das gab die Akademie am Sonntag bekannt. Freytag (73) ist deren sechster Leiter und nach 21 Jahren der erste Westdeutsche im Chefsessel, für mindestens drei Jahre.

Zwar haben viele hiesige Theaterfreunde den geborenen Tübinger in gemischter Erinnerung. Die künstlerischen-innovativen Wegmarken seiner Intendanz blieben überschaubar, die Wahrnehmung des Schauspiels in der überregionalen Presse und dessen Präsenz auf dem bedeutenden Berliner Theatertreffen ebenso. Nicht anders die Publikumsentwicklung: Nur geringfügig konnte Holk Freytag die Auslastung auf 64 Prozent steigern. Nachdem er sich 2009 nicht eben freiwillig Richtung Hersfelder Festspiele verabschiedet hat, hievte Nachfolger Winfried Schulz die Zahl auf über 80 Prozent und sorgte mit dem konsequenten Aufbau junger „Stars“ sowie reichlich Pop-Gedöns auf der Bühne zudem für eine erhebliche Publikumsverjüngung.

Gleichwohl wird hinter dem starken auch politischen Engagement von Schulz und dessen wortmeldungsfreudigem Dramaturgen Robert Koall im Rückblick oft übersehen: Es war das altlinke und auch auf dem Parkett des Deutschen Bühnenvereins dauerkämpferische SPD-Mitglied Holk Freytag, unter dem sich das Staatsschauspiel enorm politisiert und eingemischt hat. Etwa mit diversen Arbeiten von Regisseur Volker Lösch wie „die Rassen“, „Der Marquis von Keith“ und natürlich den Produktionen mit Dresdens Bürgerchor: „Die Orestie“, „Die Weber“, „Woyzeck“ und die kantige „Wunde Dresden“.

Sollte Freytag Freytag geblieben sein - und nichts deutet aufs Gegenteil -, dürften Sachsens Akademie der Künste spannende, weil wesentlich lautere und hörbarere Zeiten als bisher ins Hause stehen.

Marcus Thielking

Die Schreihälse sind verstummt. Nun hat die Sächsische Akademie der Künste noch mal über die Neumarkt-Busse diskutiert.

Seit zwei Monaten sind die Busse weg. Wollen wir jetzt vielleicht mal vernünftig darüber reden? Die Sächsische Akademie der Künste hat es versucht und lud am Montagabend zur Podiumsdiskussion. „Kunst als Provokation“ war das Thema. Damit könnten die Missverständnisse schon wieder losgehen. Waren die Busse auf dem Dresdner Neumarkt überhaupt Kunst? So fragen die einen. Und was genau war bitte die Provokation? Wundern sich die anderen.

Matthias Flügge, Rektor der Hochschule für Bildende Künste Dresden, ist immer noch ein bisschen entsetzt über die „schreienden, unerzogenen älteren Herren“, die Manaf Halbounis Installation „Monument“ mit Trillerpfeifen zum Teufel wünschten. Er erklärt sich die Erregung so, dass „sich einige Neumarkt-Idylliker angesichts der symbolischen Vernichtung vor der ebenso symbolischen Heilungsgeste erheblich pro­voziert fühlen“. Doch auch wenn er die Diskussion teilweise „unangenehm“ fand, gar „widerlich“, so kommt Flügge dennoch zu dem Schluss, dass die Installation ein „Gewinn“ war, „auch für die Stadt“.

Handelte es sich bei den hochkant gestellten Bussen, die eine Barrikade in der syrischen Stadt Aleppo nachstellten, um Kunst? Das steht für den Hochschulrektor außer Zweifel. Ästhetik, so Flügge, sei für ihn nicht die Lehre von der Schönheit, sondern von der sinnlichen Erkenntnis. Die Busse vor der Frauenkirche hätten „eine enorme ästhetische Kraft“ entfaltet. Im Übrigen lehnt er eine pauschale Definition von Kunst ab, „Was Kunst. ist, wird gesellschaftlich immer neu ausgehandelt“, so Flügge. Ihm persönlich gehen zum Beispiel manche Aktionen des chinesischen Künstlers Ai Weiwei zu weit - etwa das nachgestellte Foto des toten Flüchtlingsjungen am Strand. „Da muss man auch widersprechen dürfen.“ Schließlich lässt sich Flügge doch noch zu einer Definition hinreißen: „Kunst ist Kunst, und alles andere ist alles andere.“

Auch für die Leiterin des Kunsthauses Dresden, Christiane Mennicke-Schwarz, war die Resonanz der Neumarkt-Busse „unterm Strich unglaublich positiv“. Das Kunsthaus hatte die Installation organisiert. Zwar sei man über die Wucht der Proteste selbst überrascht gewesen. Doch es gab auch „viele Reaktionen, die uns sehr berührt haben“, so Mennicke-Schwarz. Die Busse hätten sich bald zu einer Art „Altar“ gewandelt, voller persönlicher Zettel-Botschaften und Erinnerungen. Gerade in Dresden seien solche Orte rar geworden, in denen Menschen direkt miteinander sprechen und streiten. Manaf Halbounis Werk habe in dieser Stadt offenbar „einen wunden Punkt berührt“ und dabei geholfen, „ins Gespräch zu kommen“ und Position zu beziehen.

Eine historische Einordnung gab Verena Krieger, Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Jena. „Moderne Kunst und Provokation gehören zusammen wie siamesische Zwillinge“, sagte sie und zeigte per Projektor einige Beispiele aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Dabei gab sie zu bedenken, dass Provokation oft auch den Künstlern nütze. Viele hätten durch „Skandalerfolge“ Berühmtheit erlangt. Sie stellte deshalb die Frage in den Raum, worin der künstlerische „Nutzen“ der Provokation liegen könne, wenn diese nicht ein bloßes „Marketing“ bleiben oder gar zur „Masche“ werden solle.

Die Frage ging auch an Yasser Almaamoun, den Sprecher des Zentrums für Politische Schönheit aus Berlin. Dieses Bündnis macht oft durch besonders krasse Provokationen auf sich aufmerksam. In einer Aktion des Zentrums wurden zum Beispiel Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrunken waren, angeblich exhumiert, nach Berlin überführt und dort beigesetzt. Dass solche Provokationen auch dem Marketing dienten, gab Almaamoun unumwunden zu. Er erklärte aber, dass es auch ein Nutzen sei, wenndadurch ein größeres Publikum an­gesprochen und mehr Aufmerksamkeit erreicht werde - was dann wiederum Handlungsdruck, etwa auf die Regierung, erzeuge. Kunsthaus-Chefin Mennicke-Schwarz fügte hinzu: „Der Skandal liegt in der Realität, und nicht so sehr in der Reaktion der Künstler darauf.“

Torsten Klaus

„Kunst als Provokation“: Diskussion in der Akademie

Nun sind Provokation und Kunst kein Gegensatzpaar, schon lange nicht mehr. Doch ergibt sich vor allem in Betrachtung jüngerer Kunst-Ereignisse im öffentlichen Raum Dresdens Redebedarf. Nicht nur mit den erklärten Gegnern (wenn sie sich denn auf den Dialog einlassen) von Werken wie Manaf Halbounis Bus-Skulptur „Monument“ oder dem „Denkmal für den permanenten Neuanfang“ des Künstlerpaars Heike Mutter und Ulrich Genth. Sondern auch in Kreisen von Künstlern, Kunsthistorikern, Kunstverständigen.

Die Sächsische Akademie der Künste lud nun, sozusagen im Kielwasser von Halbounis Arbeit und der darauf folgenden öffentlichen, auch medialen Auseinandersetzung, zur Diskussion „Kunst und Provokation“. Dabei saßen zwei im Podium, die den Künstler Halbouni aus näherer Distanz kennen: Christiane Mennicke-Schwarz, die Leiterin des Kunsthauses Dresden, die „Monument“ von Beginn an unterstützt hatte, und Matthias Flügge, Rektor der Hochschule für Bildende Künste Dresden, wo Halbouni sein Diplom machte und ein Meisterschüler-Studium anschloss. Dazu kamen Yasser Almaamoun als Aktivist des Berliner Zentrums für Politische Schönheit (und wie Halbouni mit syrischen Wurzeln) sowie die Jenaer Kunsthistorikerin Verena Krieger als Moderatorin - sowie gut 50 interessierte Zuhörer.

Krieger versuchte auch gleich, ein paar provokante Akzente zu setzen, indem sie wissen wollte, ob die Proteste gegen Halbounis Skulptur an der Frauenkirche „Teil des Kalküls“ seitens der Organisatoren gewesen seien - was Mennicke-Schwarz jedoch verneinte. Man habe mit Debatten gerechnet, aber nicht mit den erlebten Reaktionen.

Flügge, der Kunst als „eine Reise der Erkenntnis“ charakterisierte, erinnerte sich, bei den Bussen anfangs etwas skeptisch gewesen zu sein. Aber dann „hatte das Ding eine solche Präsenz“. Die lauten Proteste bei der Eröffnung im Februar bezeichnete er in dieser Form als „unangenehm, widerlich“. Die daran Beteiligten, zumindest deren harter Kern, stünden „außerhalb jeder ästhetischen Debatte“. In Halbounis Arbeit aber habe sich Ethik mit Ästhetik zu einem starken Zeichen vereinigt. Der Künstler, der die drei Busse auf ihren Hecks platziert und damit auf das Foto einer entsprechenden Barrikade im syrischen Aleppo zurückgegriffen hatte, hätte damit diese Situation verbildlicht, „wie ich es mir nicht hätte vorstellen können“. Außerdem sei damit auch ein Zeichen gegen die Bebauung am Neumarkt gesetzt worden, die Flügge drastisch kritisierte.

Interessant wurden die Parallelen und Unterschiede zu den Arbeiten des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS) diskutiert. Almaamoun sah in Halbouni einen „Bruder im Geist“ und „strukturell verwandte Kunst“. Das ZPS war mit Aktionen wie „Flüchtlinge fressen“ oder „Die Toten kommen“ bekannt geworden. Krieger sah im „Berühren neuralgischer Punkte“ eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten. Und auch wenn sich in der Diskussion manchmal der Eindruck einstellte, Kunst (Halbouni) und politische Aktion (ZPS) bildeten die Enden einer Parabel, war eine gewisse gemeinsame Grundschwingung nicht von der Hand zu weisen, Selbst wenn dem ZPS von Mennicke-Schwarz und Flügge ein anderer Gradmesser als der der Kunst beigegeben wurde: der des Theaters nämlich. „Wir weisen mit unseren Aktionen auf Probleme hin“, verteidigte sich Almaamoun. So werde über die Kunst versucht, Druck auf die Regierung auszuüben.

„Wir sind so vom Spektakel umgeben, wir können gar nicht anders als spektakulär vorgehen, um wahrgenommen zu werden“, resümierte Mennicke-Schwarz abschließend. „Die eigentliche Provokation sind die Kriege, Konflikte, Auseinandersetzungen“, nicht die künstlerischen Arbeiten, die sich diesen Zuständen widmeten, hatte Flügge schon zu Beginn des Abends die Dinge auf den Punkt gebracht.

Tomas Gärtner

Schriftstellern gelingt in der Sächsischen Akademie der Künste politischer Meinungsstreit – differenziert und sachlich

In seinem Fazit bringt Moderator Michael Hametner das Ungewöhnliche des Abends auf den Punkt: „In einer Zeit zunehmender Dialogunfähigkeit und Empörungslust erleben wir hier den Versuch eines Dialogs“, sagt der frühere Literaturredakteur bei MDR-Kultur gegen Ende der Debatte. Versucht haben den viele und viele sind gescheitert. Hier in der Sächsischen Akademie der Künste jedoch ist er am Mittwochabend einigen Schriftstellern gelungen.

Da bestätigten mal nicht, wie häufig, Intellektuelle mit ähnlichen Ansichten einander. Da ging es kontrovers zur Sache, doch konkret, differenziert und sachlich. Nicht Personen, sondern Worte und Sätze wurden angegriffen. Dass Jörg Bernig (Radebeul) mit den scharfen Angriffen auf die Flüchtlingspolitik der Regierung in seiner „Kamenzer Rede“ vom September 2016 Widerspruch ernten würde, war absehbar. Dafür hat er sie gehalten.

Aus Unmut über ein Denken in Sachen Migration, das seiner Ansicht nach die Regierung und ein Großteil der Medien dem „Volk“ „von oben“ vorschrieben. Er selbst hat erfahren, ideologisch zurechtgewiesen zu werden. Michael Hametner hält vieles in der Rede für produktiv, weil sie auf das Gefahrenpotenzial hinweist angesichts von rund einer Million Flüchtlinge in der Bundesrepublik. Auch andere aus dem dicht gedrängt sitzenden Publikum konnten Bernigs Kritik nachvollziehen. Doch den Ton der Rede, bestimmte Begriffe („Systemverantwortliche“), ideologisierende Sprache, pauschalisierende Unterstellungen fanden sie bedenklich bis fahrlässig.

Am schärfsten wurde Thomas Rosenlöcher (Beerwalde), der Bernig ein „hoch artifizielles Ausländer-Raus“ vorwarf. Doch Bernig bekam eben Gelegenheit, das als Übertreibung und Unterstellung zurückzuweisen. Sich auch deutlicher zu erklären, indem er von seinen Konflikt-Erfahrungen berichtete beim Deutschunterricht, den er geflüchteten Kindern erteilt. Gleichwohl vermisst Rosenlöcher in der Rede einen produktiven Vorschlag, was konkret zu tun sei in dieser hoch angespannten Situation.

Der „Mundtod geht um“, beklagte Kerstin Hensel (Berlin) in einem Gedicht. „Das Thema ist so komplex“, gab sie zu bedenken. „Das kann man nicht auf eine Formel bringen.“ Zu sagen, man sei dafür oder dagegen, reiche nicht. Diese vereinfachende Polarisierung meinte auch György Dalos, als er die Referenden erwähnte, etwa zum Brexit oder über die Verfassungsänderung in der Türkei. Sie suggerierten, man könne alle politischen Fragen mit einem, schlichten Ja oder Nein beantworten. Er sieht seine Aufgabe als Publizist nicht zuletzt darin, an die Geschichte zu erinnern. Und er appellierte daran, der Spaltung durch die „Hasskultur“ in sozialen Netzwerken wie Facebook aus dem Weg zu gehen. Emotionen hält er hier für kontraproduktiv. In dieser „neurotischen Zeit“ sollten Schriftsteller nach Ansicht von Kerstin Hensel auf Einmischung mit ihrer eigenen poetischen Sprache und auf Vernunft setzen. „Aufklären, aufklären, offen, frei sein, Menschen zugewandt. Wir brauchen Übungen in Klarsicht. Literatur kann das.“

Ähnlicher Ansicht ist auch Angela Krauß (Leipzig). Entscheidend sind für sie die Erfahrungen der Menschen, jeder lebe in seiner eigenen Erfahrungswelt. „Der Poet ist dazu verdammt, die Wirklichkeit jedes Einzelnen zu kennen.“ Jeder habe seine Geschichte, selbst der Schreihals. Zu erleben, wie Studenten in Leipzig einzelne Pegida-Demonstranten umringten und niederbrüllten, habe ihr Denken geändert. „Seitdem weiß ich, im Ernstfall kommt Gefahr auch von dort, woher wir es aus unserer eigenen Überzeugung nie erwartet hätten.“ Ideologie ist da für sie zweitrangig. Wer sich mehr Empathie von anderen wünscht, muss nach ihrer Ansicht selbst den ersten Schritt gehen, zumal als Schriftstellerin: „Es bleibt uns nichts anderes übrig, als Feinheiten darzustellen und das so anziehend zu machen, dass der Andere nicht anders kann, als sich zu verwandeln.“ Jeden zunächst erst einmal verstehen zu wollen, das, gibt Angela Krauß zu, sei eine „übermenschliche Aufgabe“. Aber genau dieses Bemühen unterscheide Künstler von Politikern. „Politik sammelt alles in einen Sack und klebt ein Schild drauf.“

Debatten müssen geführt werden, resümiert Michael Hametner. Man müsse Meinungen nicht zustimmen, aber zuhören. Es könne auch eine Aufgabe von Schriftstellern sein, in einer tief gespaltenen Gesellschaft Brücken zu bauen. Thomas Rosenlöcher kennt ja aus den alten Texten die Beschwichtigungen der Biedermänner, so schlimm werde es schon nicht kommen. „Ich habe aber Angst, dass es schlimm kommt.“ Jetzt seien wir mitten drin in den riesigen Verwerfungen und Ungleichzeitigkeiten der Welt. Er plädiert dringend, sich mit Würde und Anstand zu äußern. „Wir können entscheiden, ob wir verschärfen oder ausgleichend wirken.“

Karin Großmann

Der Streit um Flüchtlinge und Pegida entzweit auch die Dichter. Bei einer Diskussion in Dresden geht es heftig zur Sache

Die Dichter Thomas Rosenlöcher und Jörg Bernig sitzen an diesem Abend auf dem Podium nebeneinander, wie sie schon oft bei Lesungen saßen, verbunden durch Profession und sächsische Herkunft. Sie duzen einander. Ihre Texte stehen friedlich beisammen in Anthologien. Doch nun geht ein Riss durch, wie er seit Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise durch manchen Freundeskreis geht, durch Familien. Nach einem moderaten Anfang flackert zwischen beiden Autoren ein bitterer Streit auf. Das Publikum mischt sich ein. „Wir wollen doch kein Tribunal!“, ruft Moderator Michael Hametner.

Auslöser sind Jörg Bernigs Kamenzer Rede vom Herbst 2016 und sein Essay, den die SZ veröffentlicht hatte. Darin wird die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin kritisiert. „Hier wird ein Klima der Aufgeregtheit und Beschuldigung erzeugt“, sagt Rosenlöcher. „Der Ton sagt: Wir wollen diese Leute nicht haben. Es ist ein artifizielles ,Ausländer raus!‘“ Er wirft seinem Kollegen vor, sich Methoden der AfD zu bedienen, indem er nicht nachweisbare Bedrohungsszenarien vorführe. Dass ein Flüchtling seinen Einkauf an der Kasse mit dem Messer begleichen wollte, habe er schon zu oft gehört, sagt Rosenlöcher: „Da müssen Tausende mit dem Messer unterwegs gewesen sein.“ Der sonst auf Harmonie bedachte Dichter sagt: „Vielleicht meinst du, wir sollten hier auch solche Lager errichten, wie es die Ungarn tun.“ Weil sich Bernig auf die Ring-Parabel aus „Nathan der Weise“ bezieht, setzt Rosenlöcher hinzu: „Wir sollten das Lager Lessing nennen.“ Nein, sagt er später, das sei nicht fair gewesen.

Da hat Bernig bereits gekontert: „Du warst in drei Sätzen dabei, mich zum Lagerkommandanten zu machen.“ Er beobachte seit mehr als zehn Jahren, wie rabiat eine Meinung, die von der Mehrheitsmeinung abweiche, ausgegrenzt werde. Ein Gegenüber werde zum Gegner gemacht. Nachdem Merkel die Willkommenskultur beschlossen habe, sei auf alle gefeuert worden, die dagegen Einspruch erhoben. Er beschuldigt Rosenlöcher, auf der Seite jener zu stehen, die wissen, was richtig ist, und das „Wertungsmonopol“ besitzen.

Thomas Rosenlöcher fragt dagegen: „Wollen wir im Konflikt um Flüchtlinge verschärfend wirken oder ausgleichend?“ Er bekommt einige Unterstützung aus dem Publikum. Kritisiert wird, dass Bernig in einem Essay behauptet, das Wort „Lügenpresse“ sei vom Volk erfunden. Auch dass er das Wort „System“ im Zusammenhang mit Regierenden und Medien verwendet, erregt Anstoß, weil Nazis das Wort abschätzig für die Weimarer Republik benutzten. Moderator Hametner findet die Formulierungen „ein kleines bisschen fahrlässig“. Literaturkritiker Peter Geist spricht von einer „Unterkomplexität in der Begrifflichkeit“. Der Beifall im vollbesetzten Raum gilt ausschließlich Jörg Bernig.

Rosenlöcher, 69, und Bernig, 53, sind Mitglieder der Sächsischen Akademie der Künste, die zu dieser Diskussion eingeladen hat. Es ist der vierte Abend in einer Reihe, mit der sich diese Institution erfreulich direkt in die aktuelle Politik einmischt. Wird das von Schriftstellern erwartet? Lässt sich das literarische Werk unabhängig von der politischen Haltung des Autors betrachten? Wann ist ein Text ein politischer Text?

Die Leipziger Autorin Angela Krauß sagt: „Nur weil wir auch mit der Sprache umgehen, werden wir mit Politikern verwechselt.“ Die Beteiligten sind sich einig, dass es wünschenswert wäre, sich ganz aufs Literaturmachen konzentrieren zu können. Doch die Zeiten sind nicht so und waren es wohl auch nie. „Der Mundtod geht um“ heißt es in einem Gedicht, das die Autorin Kerstin Hensel vorträgt. In der Diskussion bleibt sie in einem vagen Für und Wider stecken. „Wir brauchen Übungen in Klarsicht“, sagt sie. Möglich, dass dieser Abend dazu beitrug.

Rafael Barth

Friedenspreisträgerin Carolin Emcke findet in Dresden gute Gründe für neuen Protest -und Schriftsteller Durs Grünbein gratuliert zum Bus-Mahnmal.

Morgen für Morgen warten Arbeiter an der Haltestelle auf den Bus, sie stehen, sie schauen, aber sie wechseln kein Wort. Das ändert sich an dem Tag, als der Bus eine Panne hat. Plötzlich haben die Arbeiter ein Problem, das sie eint. Ähnlich funktionieren Protestbewegungen: Sie stiften Gemeinschaft, wo bisher jeder für sich wurstelte. Pegida als Gegenteil von Ich-AGs. So erklärt die Publizistin Carolin Emcke den Zulauf neurechter Gruppierungen. Zu lange hätten sich Politiker nicht um soziale Ungerechtigkeit gekümmert, „als ob die Gesellschaft anästhesiert wäre“. Spätestens mit der Finanzkrise seien berechtigte Sorgen laut geworden. Sorgen über den globalisierten Kapitalismus, „den auch die Regierungen nicht dingfest machen konnten - oder wollten“. Gründe für Protest gibt es ihrer Meinung nach genug. Aber keinen Grund, sich mit hasserfüllten Abendlandschützern gemeinzumachen.

Just am Montagabend, als Pegida in der Dresdner Altstadt protestierte, sprach Carolin Emcke in der Neustadt als Gast einer Diskussionsreihe der Sächsischen Akademie der Künste. Im Herbst veröffentlichte sie ihr Plädoyer „Gegen den Hass“, kurz darauf bekam sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - und deutliche Kritik. Im Feuilleton wurde Emcke abgekanzelt als moralische Streberin, die von oben herab kluge Ratschläge gebe, mit denen man in der Praxis wenig anfangen könne.

Nun ist die praktische Umsetzung nicht Aufgabe einer Philosophin wie Emcke. Sie analysiert Strukturen und nennt Bedingungen, damit nicht nur eine „demokratische Unwillensbildung“ stattfindet wie bei Pöbeleien. Bürger sollten sich von Rechtsextremen, von Rassisten abgrenzen. „Sonst kommt man gar nicht dazu, über politische und soziale Fragen zu diskutieren.“ Emcke sagt, Hass werde in Bildern und Geschichten vorbereitet, die andere als minderwertig darstellten. Aber genauso ließe sich Empathie vorbereiten, indem man etwa die Ähnlichkeit von Trauer und Fluchterfahrungen betone.

So lässt sich auch das strittige Bus-Mahnmal vor der Frauenkirche deuten. „Die Dresdner haben geradezu das Privileg, dass sie solche Dinge anziehen“, sagt Durs Grünbein, der zweite Podiumsgast. Der Schriftsteller sieht die Zerstörung seiner Geburtsstadt am 13. Februar 1945 in einer Reihe mit Kriegskatastrophen in anderen Ländern. Die Kunstinstallation auf dem Neumarkt überzeugt Grünbein. „Ich kann mich damit sofort identifizieren.“

Carolin Emcke hält gerade viel von analogen Debatten, die demokratische Willensbildung ermöglichen - das gelänge weder im Netz noch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Skeptisch beurteilt sie Twitter und Facebook, deren Algorithmen Eskalation anpeilten. Neulich hat Emcke in Sankt Petersburg eine Aktivistin getroffen, die in einer Trollfabrik arbeitet. Unter sechs verschiedenen Identitäten produziert die Frau bestellte Internetbeiträge. Ist das Ziel, Merkel schlechtzumachen oder für Putin zu werben? Weit gefehlt. „Die Hauptstrategie ist, von Gegnern Energie abzuziehen“, sagt Emcke. Ein Grund mehr nachzudenken, wo sich Mitdiskutieren lohnt.

Tomas Gärtner

Anna Kaleri und Michael Bittner kämpfen mit Sprache gegen den Hass

Was im Argen liegt in Sachsen, politisiert Schriftsteller. Anna Kaleri lässt die Arbeit am nächsten Roman ruhen, weil sie keine Ruhe mehr findet, seit im Februar 2016 grölende Ausländerfeinde in Clausnitz einen Bus mit Asylbewerbern blockierten. Seither organisiert die 32-jährige, in Leipzig lebende Schriftstellerin und Journalistin vor allem die Lesereihe „Literatur statt Brandsätze“, bei der Autoren bevorzugt in Orten abseits der Großstädte auftreten und dort Weltoffenheit und Empathie verbreiten wollen. Im Sommer will ihr Verein „Lauter Leise“ (www.lauter-leise.de) einen Kultur-Bus durch Sachsen touren lassen.

Sie selbst verfasst erstmals politische Essays. „Das ist sprachliches Neuland für mich, ich muss da erst den eigenen Ton finden“, berichtete sie in der Reihe „Jetzt! Zur Zeit“ in der Sächsischen Akademie der Künste.

Sich mit Sprache dem um sich greifenden Hass-Jargon entgegenstellen – darin sieht sie jetzt ihre Aufgabe. Begriffe nicht einfach zu übernehmen – „Entwicklungshilfe“ zum Beispiel –, sondern sich klar zu machen, welches Bild sie transportieren, manchmal nach besseren, genaueren zu suchen – das gehört für sie dazu. Sie plädiert dafür, über alles zu reden, den Feinden friedlichen Zusammenlebens nicht Tabus zu überlassen. „Wo man Themen abwürgt oder schweigt, zeigt sich die Demokratie am schwächsten.“

Kommunikation hält sie für dringend nötig. Am besten, in seinem Umfeld damit anfangen, auch wenn das bei Freunden äußerst schwerfallen kann. Mehr Kommunikation, bei der auf Regeln der Gleichberechtigung geachtet werden sollte, wünscht sie sich in Kindergärten und Schulen. Und selbst im Internet lasse sich der Sturzflut von Beleidigungen und Hassausbrüchen etwas entgegensetzen, sagt Anna Kaleri. Zum Beispiel mit der im Dezember 2016 gegründeten geschlossenen Facebook-Gruppe unter dem Schlagwort (Hashtag) #ichbinhier.

Michael Bittner bewegt sich schon seit mehreren Jahren auf dem Feld gesellschaftlicher Debatten mit literarischem Anspruch. Der aus Görlitz stammende Lesebühnenautor und „Sax-Royal“-Gründer, Jahrgang 1980, der jetzt in Berlin lebt, debattiert im Internet auch mit Pegida-Anhängern. „Es macht mir Spaß, mich in diesen Streit zu stürzen“, gestand er Oliver Reinhard (Sächsische Zeitung), dem Moderator des Abends. „Und ich muss dort hin, wo es sprachlich am verrohtesten zugeht: ins Internet.“ Das sei wahrscheinlich „doppelt so hässlich“, weil sich, wie Umfragen belegen, überdurchschnittlich viele Extremisten im Netz tummeln.

Ihn stört diskursive Drückebergerei, die auch unter vielen, die sich als „links“ verstehen, verbreitet ist. Wenn man sich darauf beschränkt, Leute zu markieren, mit denen man gar nicht reden dürfe. „Feigheit vor dem politischen Gegner“ nennt er das.

Anstrengend freilich ist so etwas. Wie ein guter Boxer muss man da auch manchen Tiefschlag wegstecken und sich nicht übertrieben sensibel geben. „Wenn mir einer mit ‚Du Arschloch’ kommt, kann ich auch mal ein Auge zudrücken.“

Michael Bittner hat inzwischen aus seinen Erfahrungen mit intelligenter Ironie einige nützliche Regeln destilliert (www.saxroyal.de), von denen die wichtigste sich etwa so zusammenfassen lässt: Greife die Äußerungen einer Person an, nicht die Person selbst.

Menschen gegenüber, die sich erkennbar nicht so differenziert auszudrücken vermögen, zeigt er mehr Nachsicht. „Ich setze mich mit den Politikern auseinander, die solche Leute ausnutzen. Das sind doch die eigentlich Gefährlichen.“ In diesem Sinne täte gerade jetzt mehr Demokratiebildung an Schulen not, meint Michael Bittner. Wie Anna Kaleri versucht er vorwiegend junge Leute anzusprechen, bei denen sich radikale Weltbilder noch nicht verfestigt haben.

Bei allem, was ihn beunruhigt, klagen kann Michael Bittner nicht: „Wir sind ehrlicher geworden, wir haben uns politisiert. Ich bin optimistisch: Das kann ein Energieschub für die Gesellschaft sein.“