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Archiv-Schaufenster

Gespräch zu Patricio Bunster 26.10.2024, Foto: Leo Ziems
Patricio Bunster, Tanzproben Internationaler Sommerkurs 1981 Palucca Hochschule © Deutsche Fotothek/Erich Höhne_Aufnahme_0005698-014

»Der Tanz kann eine Form von Optimismus sein«


Bericht zur Podiumsdiskussion anlässlich des 100. Geburtstages von Patricio Bunster – Choreograf aus Chile im DDR-Exil am 26. Oktober 2024 in der Palucca Hochschule für Tanz Dresden

Katharina Christl begrüßte als Rektorin und Gastgeberin zur Veranstaltung, die bereits als Auftakt zum Jubiläum »100 Jahre Palucca Hochschule 2025« gelten könne. Holk Freytag, Sekretär der Klasse Darstellende Kunst und Film der Sächsischen Akademie der Künste, verwies in seinem Grußwort auf die Bedeutung des Gesprächs über Patricio Bunsters Wirken in der DDR, das in Zeiten des immer noch andauernden Diskurses über Ost-West-Gegensätze im besten Sinne Geschichtsaufarbeitung sei. Pina Bausch, mit der ihn eine längere Zusammenarbeit verband, habe einmal gesagt: »Tanzt – sonst sind wir verloren!« Eine Beschäftigung mit Tanz erscheine ihm besonders wichtig, da er als flüchtige Kunstform besondere Unterstützung brauche.

Patrick Primavesi, Direktor des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig und des Tanzarchiv Leipzig e.V., dankte dem Vorbereitungsteam der Patricio Bunster-Ausstellung. Die Präsentation von zahlreichen Archivdokumenten sowie von Audioaufzeichnungen aus den 1980er Jahren und Filmmitschnitten aus Choreografien Patricio Bunsters hatten bereits am Vormittag den Besuchern der Bibliotheksvilla der Palucca Hochschule einen vielseitigen Eindruck seines Wirkens vermittelt.

Gemeinsam mit Patrick Primavesi moderierte die an der Palucca Hochschule lehrende Historikerin Angela Rannow die Gesprächsrunde und stellte die Gäste vor: Prof. Dr. Peter Jarchow, Prof. Dr. Ralf Stabel, Antje Ladstätter, Regina Schettler und Raymond Hilbert. Ein kurzer Zusammenschnitt von Interview- und Tanzszenen Bunsters stimmte die Anwesenden auf die Thematik ein.

Der Historiker Ralf Stabel wurde anschließend gebeten, die Situation des Tanzes in der DDR zu beschreiben, die der Tänzer, Choreograf, Hochschullehrer und kommunistische Aktivist Bunster bei seiner Ankunft in der DDR 1974 antraf. Stabel skizzierte, dass Anfang der 1970er Jahre in der DDR noch immer klassischer Tanz und Folklore dominierten. Mehrere kulturpolitische Entscheidungen hatten den Modernen Tanz als dekadent aus Ausbildung und Aufführungspraxis der DDR verdrängt. Gret Palucca habe sich ihrerseits vergeblich um eine Beschränkung politischer Einflussnahme auf Lehrpersonal und Schulprogramm ihrer Tanzschule gewehrt. Stabel konstatierte, dass Patricio Bunster 1974 der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit und vom richtigen Ort gewesen sei. Als Unterstützer des sozialistischen, nun dem Putsch zum Opfer gefallenen Präsidenten Salvador Allende aus dem revolutionär bewegten Lateinamerika war Bunster ein Glücksfall für die DDR. Wie ein „Erlöser“ brachte er seine Auffassung und Methode von Tanz mit, die er wiederum von den deutschen, während der Naziherrschaft exilierten Tänzern und Choreografen Kurt Jooss und Sigurd Leeder in Chile übernommen hatte, die Klassik und Moderne verband, für einen Tanz, der zum »Sieg des Sozialismus« beitragen wollte. Bunsters Choreografie »Trotz alledem - Venceremos« von 1975 über den Kampf des Volkes gegen Unterdrückung sei ikonisch für das sozialistische Weltsystem gewesen.

Die Tanzjournalistin und Autorin der Publikation »Patricio Bunster – Wege – Begegnungen« Regina Schettler berichtete über dieses Buchprojekt der Akademie der Künste zu Berlin, das eigentlich zu Bunsters 60. Geburtstag 1984 geplant war, sich aber bis 1990 verzögerte. Schettler bedauerte, dass die mit Bunster auf Deutsch und Spanisch abgestimmten Texte über die ihn prägenden Einflüsse, künstlerische Vorbilder und Absichten von der Herausgeberin Edith Kühl erheblich gekürzt und verändert wurden. Ein wichtiger Beitrag der Bunster-Schülerin und Choreografin Birgit Scherzer durfte aufgrund ihrer Republikflucht gar nicht in der Publikation erscheinen. In anekdotischer Form erzählte Schettler von ihren langwierigen Bemühungen um Gesprächstermine mit Bunster. Während der Einstudierung seiner Choreografie »…denn wir haben nur ein Leben« im Jahr 1984 mit Schülerinnen und Schülern der Palucca Schule ergab sich endlich eine Gelegenheit für ein Treffen in Dresden. Schettler und Bunster führten in einem »dreitägigen Tages- und Nachtmarathon« Gespräche vor, zwischen und nach den Proben. Immer wieder wurden die Tonband-Interviews durch Fragen zur Ausstattung unterbrochen, die Bunster geduldig beantwortete. Bunster habe mit Nachsicht auf Unwissenheit, aber mit Distanziertheit auf Dummheit reagiert. Er habe nie Kritik an der DDR oder ihrer Regierung geäußert, da er dankbar für die ihm und seinen Landsleuten gewährte Aufnahme gewesen sei.

Die Pianistin und Instrumentalkorrepetitorin Antje Ladstätter sprach von einem Kulturkampf im Tanz, den sie an der Palucca Schule bei der Hospitation bei dem Pianisten Waldemar Wirsing erlebte. Der Moderne Tanz hätte eine komplett andere Unterrichtsmethode angewandt und Tanz stärker im Zusammenhang mit der Musik vermittelt. Patricio Bunster bereicherte die Musikauswahl an der Schule mit Stücken des chilenischen Sängers Victor Jara und u. a. Beispielen des Neuen Liedes aus Chile und spornte die Musiker an, Neues zu spielen.

Der Pianist und ehemalige Direktor der Palucca Schule Peter Jarchow bedauerte, dass man nicht noch wissbegieriger und dankbarer für die Begegnung mit Bunster und seiner vielschichtigen Leistung gewesen sei. Er erinnerte sich an den kameradschaftlichen Umgang Bunsters mit seinen Schülern und Schülerinnen und sein Streben nach einer produktiven Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden. Das war neu an der Palucca Schule. Jarchow selbst erlebte Bunster erstmalig während einer Weiterbildung in Neubrandenburg, wo Bunster das Bewegungssystem von Rudolf von Laban erläuterte und den strukturellen Zusammenhang von Musik und Tanz auch anhand technischer Daten veranschaulichte. Diese Anknüpfung an deutsche, jedoch in der DDR nicht gepflegte Tanzvorbilder machte einen nachhaltigen Eindruck nicht nur auf die Lehrenden, sondern auch auf die Schülerinnen und Schüler Bunsters, von denen viele – z. B. Raymond Hilbert, Birgit Scherzer, Mario Schröder, Carola Schwab und Stephan Thoss – namhafte Tänzer und Choreografen geworden sind.

Ralf Stabel blickte zurück auf die deutschen Exilanten während der NS-Zeit: Sehr junge Tänzer wären auf ihrer Flucht nach Amerika oft zunächst in Havanna angekommen und von dort weiter in die USA oder nach Südamerika gereist, den deutschen Ausdruckstanz quasi im Gepäck. Dazu zählten u. a. Kurt Jooss, Ernst Uthoff und Lola Botka, die den jungen Bunster in Chile zum Tanzstudium anregten. Bunster wollte während seines Exils mit der Tanz-Kunst Fenster öffnen und zwar frei von Dogmatismus, fertigen Formen und Stilrichtungen. Stabel vermutet, die großzügige Aufnahme von 2000 bis 5000 chilenischen Emigranten in der DDR habe auch mit persönlicher Betroffenheit Erich Honeckers zu tun, dessen Tochter mit einem Chilenen liiert gewesen war.

Aus dem Publikum meldete sich Michael Apel zu Wort. Er hatte als Tänzer des Bauarbeiterensembles Cottbus Bunster bei einer gemeinsamen Einstudierung mit Palucca-Schülern erlebt. Bunster hätte Grenzen aufgebrochen und alle Menschen ohne Ansehen der Person ernst genommen. Das vermisse er heute.

Der Tänzer Mike Salomon hob hervor, dass Bunster von den Aufführenden Authentizität verlangte: Was man zeige, solle man auch fühlen. Um die Vorstellungskraft der oft jungen Tänzer anzuregen, verwendete Bunster in seinen Erzählungen starke, farbige Bilder. Salomon hätte dadurch einen anderen Zugang zu Theater gefunden.

Der Tänzer und Ballettmeister des Bundesjugendballetts Raymond Hilbert erinnerte daran, dass Bunster vor seiner Flucht in Chile mit Erwachsenen gearbeitet hatte, in der DDR aber vornehmlich mit Kindern und Jugendlichen. Bunster hätte als Lehrer gesprüht vor Leidenschaft für das Leben. Auch die fremde Musik hätte magisch gewirkt. Es wurde Interesse und Neugierde zu lernen geweckt, auch wenn man als Kind nicht alles gleich verstanden hätte.
Raymond Hilbert wurde gebeten, von der Situation des Tanzes in Chile und seiner Lehrtätigkeit an der Tanzschule »Espiral« 2004-2016, einer Gründung von Patricio Bunster mit Joan Turner in Santiago, zu berichten. Hilbert erläuterte das Schulsystem der »Espiral«, das unter Bunster allen Studierenden größtmögliche Chancengleichheit einzuräumen versuchte. Außerdem wurde der Stundenplan stark durch die Erfahrungen des deutschen Ausbildungsgangs geprägt und hatte Vorbildwirkung auf andere Ausbildungseinrichtungen z. B. in Mexiko. Es habe sich um eine sehr familiäre Gemeinschaft mit ca. 40 Studierenden gehandelt, die aus unterschiedlichen sozialen und politischen Verhältnissen stammten. Heute sei Chile immer noch politisch zerrüttet. Die Spaltung zwischen Anhängern von Allende und Pinochet existiere fort, weil eine historische Aufarbeitung der Ursachen und Verbrechen der Diktatur nicht stattgefunden habe. Auch der nicht bewältigte Schmerz von Angehörigen Ermordeter bzw. Verschwundener trägt dazu bei, dass politische Streiks und Proteste häufig lange andauern und gewaltsam verlaufen. Patricio Bunster habe mit der Darstellung von Ungerechtigkeit sein Hauptthema verfolgt. Tief beeindruckte Bunster z. B. das Ballett »Der grüne Tisch« von Kurt Jooss über die tödlichen Auswirkungen von Aufrüstungspolitik, das um 1940 in Chile gastierte. Später kamen weitere Themen wie antikoloniale und revolutionäre Untergrundbewegungen oder die Liebe hinzu, denen Bunster dann eigene Choreografien widmete.
Bunster konnte durch den Tanz Trauer und Frustrationen überwinden und trotz des Verlustes vieler Freunde während der Pinochet-Diktatur seinen Optimismus bewahren. Als angehender Architekt – erst kurz vor dem Abschluss gab Bunster zugunsten des Tanzes sein Architekturstudium auf – hat Bunster eine sehr raumbezogene Choreografie entwickelt. In seinem Unterricht an der Palucca Schule ging Bunster einen anderen Weg, als Gret Palucca, die vor allem über eine spezielle Musikauswahl Empfindungen in den Schülern zu wecken und in improvisierte Bewegung zu verwandeln suchte: Bunster regte das Begreifen und die rationale Auseinandersetzung z. B. mit bedrohlichen Situationen an, als Auslöser für Gefühle und die körperlichen Reaktionen darauf. Bunster stimmte mit Laban in der Auffassung überein, dass jeder Mensch ein Tänzer sein könne, wenn man ihn gewisse methodische Mittel lehrte. Hilbert interpretierte Bunsters Geisteshaltung als die eines Humanisten, der menschlichen Werten immer den Vorrang einräumte.

Antje Ladstätter sprach von einem bedeutsamen Einfluss, den Bunster während seiner Lehrtätigkeit von 1979 bis 1984 an der Palucca Schule ausübte. Er hätte komplexes Denken gelehrt, zur Beschäftigung mit der Theorie angeregt und seinen Schülern dafür Werkzeuge an die Hand gegeben. Abhängigkeiten im Lehrer-Schüler-Verhältnis hätte er nicht gewollt. Auch persönlich hätte sie von der vermittelten Laban-Theorie profitiert, insbesondere hat sie aus den Wechselbeziehungen von Raum, Zeit und Kraft Folgerungen für ihr Klavierspiel gezogen.

Ralf Stabel resümierte, dass es eine kulturelle Transformation gegeben habe, die mit Bunsters Aufenthalt in der DDR und dann ab 1985 wieder in Chile einherging. Die besondere Nahbarkeit Bunsters, der sich – wie in Amerika üblich – mit Vornamen ansprechen ließ, hat zu seinem Ansehen als »Meister«, wie er heute noch von Schülern genannt wird, beigetragen. Bunster verkörperte die lateinamerikanische Geisteshaltung eines magischen Realismus, die das Diesseits und Jenseits zusammendenkt, die Reales und Nichtreales für vereinbar hält.

Nach anderthalbstündigem lebhaften Gespräch dankte Patrick Primavesi den Gesprächsgästen und ermunterte alle, die Ergänzendes zum Thema Patricio Bunster beizutragen haben, Kontakt mit dem Leipziger Forschungsprojekt »Kulturerbe Tanz in der DDR« aufzunehmen. Denn nicht nur die Recherchen in den Archiven gehen weiter, auch die Erinnerungen weiterer Zeitzeugen sollen vor dem Vergessen bewahrt werden.

Kooperationsveranstaltung der Palucca Hochschule für Tanz Dresden, der Sächsischen Akademie der Künste, des Tanzarchivs Leipzig e.V. und des Deutschen Tanzfilminstituts Bremen

https://www.saw-leipzig.de/de/projekte/kulturerbe-tanz-in-der-ddr

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