Archiv-Schaufenster
Plakat- und andere Geschichten aus dem Tanzarchiv
Mit einer gut besuchten Matinee endete am Sonntag, dem 26. Februar 2023 die Plakatausstellung „Einladung zum Tanz“ in der Universitätsbibliothek Leipzig (UBL). Eingeladen hatte die Sächsische Akademie der Künste zusammen mit der UBL und dem Tanzarchiv Leipzig e.V. zu Vorträgen, Ausstellungsrundgang und Podiumsgesprächen.
Die Ausstellungskuratorin Frau Dr. Melanie Gruß vermittelte anschaulich, welche unterschiedlichen Geschichten die Plakate des einzigartigen Tanzarchivs Leipzig erzählen. So verdeutlicht ein Plakat des Staatlichen Dorfensembles der DDR 1961, wie folkloristische Tanzstücke wie „Brigitte und das Schweineglück“ die Zwangskollektivierung und neue Tierproduktionsmethoden in der Landwirtschaft der DDR propagierten.
Doch die Bestände des Tanzarchivs Leipzig, ein ehemaliges Institut der Akademie der Künste der DDR, das 2011 seine Finanzierung und Eigenständigkeit verlor und dessen Bestände in die Obhut der Universitätsbibliothek Leipzig übergeben wurden, sind thematisch und zeitlich weitaus vielfältiger. Allein die Plakatsammlung reicht von den 1920er Jahren bis in die Gegenwart. Die Kabinettausstellung zeigte außerdem Filmausschnitte aus den über 900 Filmrollen des Tanzarchivs, die im Rahmen des sächsischen Landesprogramms SAVE digitalisiert wurden. Der inhaltliche Schwerpunkt dieser Filme liegt auf dem deutschen Ausdruckstanz beziehungsweise der Geschichte des Tanzes in der DDR und den osteuropäischen Ländern. Dieses Kulturerbe nicht nur zu bewahren, sondern auch produktiv für die aktuelle Tanzpraxis, die Forschung und die künstlerische Ausbildung zu machen, ist das Ziel der Veranstalter.
Für die großen Anstrengungen der Bearbeitung und Digitalisierung der Sammlungsbestände, die u.a. mit DFG-Mitteln in den letzten Jahren durchgeführt wurden, ist der Universitätsbibliothek Leipzig die Anerkennung gewiss – die stellvertretende Direktorin Charlotte Bauer berichtete stolz. So sind heute ca. 50 000 Objekte der wichtigsten Nachlässe (z. B. Rudolf von Laban) und Sammlungen über den Verbundkatalog Kalliope recherchierbar. Eine Onlinestellung von rechtefreien Digitalisaten soll noch in diesem Jahr beginnen.
Doch die Sammlungen dieses Archivs müssen zur Dokumentation des Tanzschaffens in Ostdeutschland, der DDR bzw. den neuen Bundesländern weiter angereichert, Vor- und Nachlässe von relevanten Tänzern, Choreografinnen, Tanzwissenschaftlern und –journalistinnen eingeworben werden. Für eine solch gezielte Überlieferungsbildung, für Forschungs- und Publikationsaktivitäten fehlen der UBL-Abteilung Sondersammlungen Personal, Finanzen und Auftrag.
In der ersten von zwei Podiumsgesprächen verwies Prof. Dr. Thomas Fuchs, Leiter der Sondersammlungen und Mitkurator der Ausstellung, auf die Grundverordnung der UBL, die ihm als bibliothekarische Kernaufgabe die Informationsversorgung der Universität auftrage. Das Tanzarchiv ist nur eine relativ kleine Sammlung unter vielen, um die man sich zu kümmern habe. Man halte sich an die Vorgaben der DFG, Erschließungsdaten in überregionale Nachweissysteme einzuspeisen und öffentlichen Zugang zu ermöglichen. Fuchs könnte sich eine zentrale Einrichtung für Sammlungen zur Tanzgeschichte vorstellen, die mit einem eindeutigen Sammlungssprengel, -schwerpunkten und -strategien versehen sei.
Prof. Dr. Patrick Primavesi, Direktor des Instituts für Theaterwissenschaft Universität Leipzig und des Tanzarchiv Leipzig e.V., betonte die historische Bedeutung ostdeutscher Tanztraditionen und der einzigartigen Archivsammlungen im Tanzarchiv. Man habe nur noch etwa 10 Jahre Zeit, um wichtige Nachlässe bzw. Interviews von Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts zu sichern. Es bestehe ansonsten die Gefahr einer Vernachlässigung des kulturellen Gedächtnisses der neuen Bundesländer. Michael Freundt, Geschäftsführer des Dachverbandes Tanz Deutschland, fragte als Moderator, wo man am besten solche Privatarchive zusammenführe – zuletzt sind der Nachlass von Dietmar Fritzsche (1936 - 2012) und der Vorlass von Volkmar Draeger, wichtige ostdeutsche Tanzkritiker, an das Tanzarchiv Köln gegangen. Primavesi machte darauf aufmerksam, dass dafür geeignete Archive in Ostdeutschland fehlen, Theaterarchive sich z.T. in Auflösung befinden bzw. gerade an Stadtarchive abgegeben werden.
Prof. Dr. Ralf Stabel, Tanzwissenschaftler aus Berlin und häufiger Archivnutzer, hielt ein Nachdenken über die eigene Vergangenheit für die Gesellschaft existentiell. Bei der Quellenkritik von archivierten Dokumenten seien Zeitzeugenbefragungen und die Verbalisierung von authentischen Erlebnissen unerlässlich. Wichtige Hinweise auf historische Quellen verdanke er auch Gesprächen mit dem Fachpersonal der Archive (was allerdings voraussetzt, dass es solches gibt). Der Beitrag ostdeutscher Tanztraditionen könne möglicherweise in den speziellen Erfahrungen der Künstler der Weimarer Republik, Nazi-Zeit und der DDR liegen, die sich der politischen Wahrnehmung ihrer Kunst sehr bewusst gewesen seien. Aus dem Publikum stimmte man mit der Schilderung von Theater- und Tanzaufführungen in Dresden zu, deren politische Interpretation viel Gesprächsstoff in der DDR bot. Primavesi machte darauf aufmerksam, dass Tanz als wortlose Kunst die Verständigung über nationale Grenzen hinweg ermögliche.
Dr. Britta Kaiser-Schuster, Dezernentin der Kulturstiftung der Länder, berichtete von Förderschwerpunkten bei Ausstellungen und Erwerbungen von Nachlässen, wovon das Tanzarchiv Köln bereits profitiert habe. Auch die Kulturstiftung verpflichtet zur Digitalisierung, Konservierung und Zugänglichmachung der Erwerbungen. Zumindest im Bereich Fotografie habe Kaiser-Schuster den Eindruck, dass Fotografie aus Ostdeutschland noch unterbewertet sei. Anträge zum Kulturerbe Tanz in Ostdeutschland seien bisher nicht gestellt worden, was als Ermutigung verstanden werden kann. Fachleute sollten eine Auswahl relevanter Zeitzeugen für die Nachlasseinwerbung treffen, wobei der Aspekt internationale Vernetzung nach Osteuropa besonders spannend sei.
In der zweiten Runde befragte Michael Freundt Tanzpraktiker wie Mario Schröder nach ihren Erfahrungen. Schröder, Ballettdirektor und Chefchoreograf der Oper Leipzig, liegt die Auseinandersetzung mit choreografischen Werken seiner Vorgänger sehr am Herzen, wie seine Inszenierung von „Pax Questuosa“ nach Uwe Scholz belegt. Es wäre interessant gewesen, von Schröder mehr über seine Archivrecherchen bzw. die Archivalien/Objekte zu hören, die er für seine Arbeit nutzen konnte. Carena Schlewitt, Intendantin des Europäischen Zentrums der Künste Hellerau, verwies auf vielfältige Anstrengungen ihres Hauses wie das Festival „Erbstücke“ oder die 2019 erfolgte Rekonstruktion der Appia-Bühne im Festspielhaus, die das Kulturerbe lebendig halten, aber auch immer wieder öffentlicher Förderprogramme bedürfen.
Als weiteres Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste kam die Tänzerin und Choreografin Katja Erfurth zu Wort. Die Vorstandsvorsitzende des Villa Wigman für Tanz e.V. berichtete vom Kampf um die bauliche Erhaltung und historische Erforschung der Wohn- und Arbeitsstätte von Mary Wigman in Dresden, gewiss auch ein Thema beim Podiumsgespräch „Bautzener Straße 107“ am 29. April 2023.
Patrick Primavesi erhielt zum Schluss Gelegenheit, seine Vorschläge zur Weiterentwicklung des Tanzarchivs vorzustellen. In einem mit Bundes- oder Ländermitteln zu finanzierenden Gedächtniszentrum Tanz könnten multiperspektivische Forschungen zu ostdeutschen Tanztraditionen, Ausbildungsinstitutionen wie auch internationalen Vernetzungen ermöglicht werden. Die Sammlungen des Tanzarchivs Leipzig sollten möglichst einfach der interessierten Öffentlichkeit, Fachleuten, Tanzpraktikern und -Auszubildenden zugänglich sein. Geschichte, Traditionen und Potentiale des ostdeutschen Tanzes seien auf vielfältige Weise zu vermitteln.
Nächste Schritte in Richtung Förderanträge sind die Abstimmung mit dem Verbund deutscher Tanzarchive, die Einbeziehung wissenschaftlicher Institutionen wie der Sächsischen Akademie der Wissenschaften sowie Bemühungen um Medienpartner. Bei einer nächsten Veranstaltung im November 2023 sollen die Planungen konkretisiert werden.
Der im Tanzarchiv Leipzig schlummernde „Schatz im Dornröschenschlaf“ (Ralf Stabel) wurde den Anwesenden anschaulich vorgestellt. Gelingt es den Unterstützern, ihn zu wecken? Es ist vermutlich noch sehr viel Überzeugungsarbeit zu leisten.




